Generalanwalt Jean Richard de la Tour hat am 24.03.2022im Verfahren C-720/20 vor dem Europäischen Gerichtshof seine Schlussanträge zu der Frage vorgelegt, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags eines Kindes auf internationalen Schutz zuständig ist, das in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen geboren wurde, der seinen Familienangehörigen internationalen Schutz gewährt.
Aus der Pressemitteilung des EuGH vom 24.03.2022 ergibt sich:
Die Mitglieder einer Familie mit russischer Staatsangehörigkeit und tschetschenischer Herkunft wurden 2012 in Polen als Flüchtlinge anerkannt. Anschließend übersiedelten sie nach Deutschland, wo sie jedoch keine Aufenthaltsgenehmigung besitzen. 2015 wurde in Deutschland ein weiteres Kind geboren. Dieses Kind stellte bei den deutschen Behörden einen Antrag auf internationalen Schutz. Gestützt auf die Dublin-III-Verordnung Nr. 604/2013 erklärten die deutschen Behörden den Antrag für unzulässig, weil den Familienangehörigen des Kindes bereits von einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt worden sei.
Das von dem Kind angerufene Verwaltungsgericht Cottbus ersucht den Gerichtshof um Klärung, welche Verfahrensvorschriften für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz gelten, den das betreffende Kind im Gebiet des Mitgliedstaats (Deutschland), in dem es geboren wurde und in dem es mit seinen Familienangehörigen lebt, gestellt hat, während Letzteren in einem anderen Mitgliedstaat (Polen), den sie verlassen haben und in den sie nicht zurückkehren möchten, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist.
Generalanwalt Richard de la Tour weist in seinen Schlussanträgen darauf hin, dass sowohl bei Personen, die internationalen Schutz beantragen, als auch bei solchen, die diesen bereits Schutz genießen, der Familienverband zu wahren sei. Zudem seien gemäß der EU-Grundrechte-Charta die Interessen des Kindes gebührend zu berücksichtigen. Desgleichen müsse die Wirksamkeit des in der Charta verankerten Asylrechts sowohl hinsichtlich des Zugangs des Kindes zu einem Prüfungsverfahren für seinen Antrag auf internationalen Schutz als auch hinsichtlich der Rechte gewährleistet werden, die seinen Familienangehörigen aufgrund ihrer Flüchtlingseigenschaft zustünden. Zwar regele die Dublin-III-Verordnung den Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung dieses Antrags auf internationalen Schutz, jedoch könnten die darin enthaltenen Bestimmungen nicht alle möglichen Konstellationen erfassen, die sich namentlich aus dem Umzug von Familien innerhalb der Union ergäben.
Generalanwalt Richard de la Tour schlägt dem Gerichtshof vor, einen auf das Kindeswohl gestützten Weg zu beschreiten und für Recht zu erkennen, dass in einer Situation wie der hier in Rede stehenden, in der das Kind seinen Antrag auf internationalen Schutz in dem Mitgliedstaat gestellt hat, in dessen Hoheitsgebiet es geboren wurde und zum Zeitpunkt der Antragstellung zusammen mit seinen Familienangehörigen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, die Dublin-III-Verordnung Nr. 604/2013 dahin auszulegen ist, dass das Wohl des Kindes es gebietet, dass dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags zuständig ist.