Das Landesarbeitsgericht Köln hat mit Urteil vom 16.09.2016 zum Aktenzeichen 10 Sa 328/16 entschieden, dass eine Gewerkschaft den Zutritt zu den Betriebsräumlichkeiten eines Arbeitgebers zur Mitgliederwerbung beanspruchen kann.
Nach dem Bundesarbeitsgericht folgt aus der richterrechtlichen Ausgestaltung der durch Art. 9 S. 3 GG garantierten Koalitionsbetätigung ein betriebliches Zutrittsrecht der Gewerkschaften zu Zwecken der Mitgliederwerbung während der Pausenzeiten.
Nach Art. 9 Abs. 3 GG ist für jedermann und für alle Berufe das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Koalitionen zu bilden, gewährleistet. Das Grundrecht schützt nicht nur die Freiheit des Einzelnen, eine derartige Vereinigung zu gründen, ihr beizutreten oder ihr fernzubleiben, sondern auch die Koalition in ihrem Bestand und ihrer organisatorischen Ausgestaltung sowie solche Betätigungen, die darauf gerichtet sind, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu wahren und zu fördern. Zu diesen geschützten Tätigkeiten gehört nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auch die Mitgliederwerbung durch die Koalitionen selbst. Denn der Fortbestand der Koalition wird durch die Werbung neuer Mitglieder gesichert. Von ihrer Zahl hängt die Verhandlungsstärke ab. Wie die Koalition das Ziel der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen verfolgt, lässt Art. 9 Abs. 3 GG offen. Deswegen ist es zunächst der Gewerkschaft selbst überlassen, über Anlass, Inhalt, Ort und konkrete Durchführung ihrer Werbung um weitere Mitglieder zu entscheiden. Gerade der Betrieb bietet hierbei die Möglichkeit, auf das Anliegen der Gewerkschaft hinzuweisen, um neue Mitglieder zu werben. Deshalb muss der Gewerkschaft möglich sein, auch im Betrieb Mitgliederwerbung zu betreiben.
Grundsätzlich liegt es an der Gewerkschaft zu bestimmen, welche und wie viele Personen sie mit einer von ihr konzipierten Werbemaßnahme betraut. Daher unterfällt nicht nur der Ort für die gewerkschaftliche Werbung, sondern auch die personelle Auswahl der Werbenden dem Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG. Eine Gewerkschaft braucht sich nicht darauf verweisen zu lassen, ausschließlich betriebszugehörige Arbeitnehmer mit der Durchführung von Mitgliederwerbung zu beauftragen. Sie ist vielmehr grundsätzlich berechtigt, sich hierfür auch betriebsfremder Beauftragter zu bedienen.
Dieses Recht ist auch dann gegeben, wenn keine betriebsangehörigen Gewerkschaftsmitglieder vorhanden sind. Gewerkschaften haben grundsätzlich einen Anspruch darauf, in Betrieben auch mit betriebsfremden beauftragten Mitgliedern Werbung zu betreiben, soweit überwiegende schützenswerte Interessen des Arbeitgebers und Betriebsinhabers nicht entgegenstehen. Hierzu hat das Bundesarbeitsgericht im Urteil vom 28.02.2006 ausdrücklich entschieden, dass dies auch dann gilt, wenn Arbeitnehmer des Betriebes bereits Mitglieder der Gewerkschaft sind. Hieraus ist im Umkehrschluss zu folgern, dass dies auch dann gelten soll nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts, wenn keine Mitarbeiter des Betriebes gewerkschaftlich organisiert sind. Dies stimmt mit dem Gedanken überein, dass auch dann und erst recht der Werbe- und Informationszweck gegenüber neuen potenziellen Gewerkschaftsmitgliedern besteht. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 17.02.1981 darauf verwiesen, dass jedenfalls dort, wo die Gewerkschaft bereits in Betrieben und Anstalten durch Mitglieder vertreten ist, auszuschließen ist, dass ohne ein Zutrittsrecht für betriebsexterne Gewerkschaftsangehörige die Erhaltung und Sicherung der Koalition gefährdet wäre und das entsprechende Zutrittsrecht als unerlässlich betrachtet werden müsste. Auch hieraus ist der oben erwähnte Umkehrschluss zu ziehen.
Aus Art. 9 Abs. 3 GG ist auch das Recht der Klägerin zur personellen Auswahl der von ihr entsandten betriebsexternen Gewerkschaftsbeauftragten zu schlussfolgern. Art. 9 Abs. 3 GG überlässt einer Koalition grundsätzlich die Wahl der Mittel, die sie bei ihrer koalitionsspezifischen Betätigung für geeignet und erforderlich hält. Dementsprechend kann eine Gewerkschaft selbst darüber befinden, an welchem Ort, durch welche Personen und in welcher Art und Weise sie um Mitglieder werben will.
Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Gewerkschaft zur Durchführung von Werbemaßnahmen im Betrieb auf die Mitwirkung des Betriebsinhabers angewiesen ist. Sie kann im Betrieb durch betriebsfremde Beauftragte nur tätig werden, wenn der Arbeitgeber diesen den Zutritt gestattet und ihre Tätigkeit duldet. Damit kollidiert eine derartige Mitgliederwerbung mit ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Rechten des Arbeitgebers und Betriebsinhabers, u. a. dessen durch Art. 13, 14 GG geschützten Haus- und Eigentumsrecht sowie seiner jedenfalls durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit, die insbesondere bei einer Störung des Arbeitsablaufs und Betriebsfriedens berührt wird.
Der danach mögliche Konflikt widerstreitender Grundrechte bedarf der Ausgestaltung durch die Rechtsordnung. Der Gesetzgeber ist dazu berufen, Rechtsinstitute oder Normenkomplexe zu schaffen, die zur effektiven Nutzung grundrechtlich geschützter Freiheiten notwendig sind. Da er jedoch bislang davon abgesehen hat, war die bestehende Schutzlücke von den Gerichten im Wege der Rechtsfortbildung zu schließen. Dazu hat das Bundesarbeitsgericht im Urteil vom 28.02.2006 ein Zutrittsrecht einer Gewerkschaft zum Zwecke der Mitgliederwerbung durch betriebsfremde Gewerkschaftsbeauftragte dem Grunde nach anerkannt. Ob der jeweils konkret begehrte Zutritt zu gewähren ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Diese bestimmen sich nach dem von der Gewerkschaft zur Entscheidung gestellten Antrag. Das darin zum Ausdruck kommende Zutrittsbegehren konkretisiert den personellen und organisatorischen Aufwand des Arbeitgebers und lässt den Schluss auf die damit einhergehenden Störungen betrieblicher Abläufe und des Betriebsfriedens sowie der darauf bezogenen Grundrechtsbeeinträchtigungen des Arbeitgebers zu.
Hinsichtlich einer etwaig zu befürchtenden Störung des Betriebsfriedens durch Auftreten des Gewerkschaftssekretärs Herrn O im Betrieb der Beklagten mit Rücksicht auf die Geschehnisse vom 26.11.2014 ist Folgendes zu berücksichtigen: Ein – damals vorgefallenes – unangekündigtes Erscheinen ist aufgrund der Antragstellung im vorliegenden Verfahren nicht mehr zu befürchten, da die Klägerin in ihrem Antrag ausdrücklich eine Ankündigungsfrist von einer Woche gegenüber der Geschäftsführung der Beklagten aufgenommen hat. Hinsichtlich der von der Beklagtenseite als unzutreffend gerügten Behauptungen im Aufforderungsschreiben vom 26.11.2014 die Mitarbeiter der Beklagten seien an Lohnsteigerungen in der Druckindustrie durch die Beklagte nicht beteiligt worden, die Geschäftsführer der Beklagten würden zur Verdienststeigerung Leute rauswerfen und andere für weniger Lohn einstellen, handelt es sich um keine persönlichen Ehrverletzungen sondern um eine scharf formulierte Kritik mit Bezug auf koalitionsspezifische Anliegen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass solche etwaigen Grenzüberschreitungen sich bislang als einmaliger Einzelfall darstellen. Eine andere Gewichtung der wechselseitigen Interessen mit der Folge, dass dann den Urhebern wahrheitswidriger und gegebenenfalls ehrverletzender Erklärungen gegenüber der Gegenseite ein Zutrittsrecht zu Recht verweigert werden könnte, kann im Wiederholungsfall geboten sein.
Sonstige mit Rücksicht auf die zu berücksichtigenden Arbeitgeberinteressen gebotenen Einschränkungen des Zutrittsrechts sind von der Antragstellung der Klägerseite bereits berücksichtigt.
Die zwischen den getroffenen Grundrechtspositionen herzustellende praktische Konkordanz erfordert die Berücksichtigung typischer und vorhersehbarer betrieblicher Belange des Arbeitgebers. Dazu gehört insbesondere der organisatorische Aufwand, der im Einzelfall betrieben werden muss, um Störungen des Betriebsfriedens und des Betriebsablaufs zu verhindern. Aus diesem Grund hat die Gewerkschaft den Besuchstermin angemessene Zeit zuvor anzukündigen, wobei im Hinblick auf etwaige organisatorische Maßnahmen von einer Regelfrist von einer Woche auszugehen ist. Dies hat die Klägerin im Rahmen ihrer Antragstellung berücksichtigt.
Bei der gebotenen typisierenden Betrachtung ist zudem davon auszugehen, dass beachtliche betriebliche Belange bei einer Häufigkeit der gewerkschaftlichen Zutritte nicht unverhältnismäßig beeinträchtigt werden. Insoweit haben die verfassungsrechtlich durch Art. 13, 14 Abs. 1 und 12 Abs. 1 GG geschützten Rechtsgüter des Arbeitgebers hinter der durch Art. 9 Abs. 3 GG verbürgten koalitionsspezifischen Betätigungsfreiheit der Gewerkschaft zurückzutreten. Einer näheren Begründung zur Häufigkeit des Zutrittsbegehrens bedarf es allerdings dann nicht, wenn eine zuständige Gewerkschaft einmal im Kalenderhalbjahr in Pausenzeiten gewerkschaftliche Werbemaßnahmen – wie hier die Klägerin – im Betrieb durchführen will.
Den anzuerkennenden Sicherheits- und Geheimhaltungsinteressen der Beklagten trägt die Antragstellung der Klägerin hinreichend dadurch Rechnung, dass das Zutrittsrecht für ihre Mitgliederwerbung in den räumlichen Bereichen der Beklagten beschränkt wird auf solche Räumlichkeiten, die nicht die Produktionsfläche und die Büros der Beklagten betreffen.