Das Bundesverfassungsgericht hat am 07.07.2020 zum Aktenzeichen 1 BvR 2447/19 entschieden, dass eine Vorabeinschätzung der Erfolgsaussichten im Prozesskostenhilfeverfahren auch dann zulässig ist, wenn eine solche Einschätzung eine abwägende Berücksichtigung der im Einzelfall widerstreitenden grundrechtlich geschützten Interessen voraussetzt.
Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 62/2020 vom 24.07.2020 ergibt sich:
Der nicht öffentlich bekannte Beschwerdeführer war im Jahr 2018 wegen zweier von ihm eingeräumter einfacher Körperverletzungen zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Wegen einer dritten angeklagten Körperverletzungstat, die ebenfalls in den eineinhalbmonatigen Zeitraum zwischen den abgeurteilten Taten fiel, wurde die Strafverfolgung nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt. Eine Anfechtung des Urteils erfolgte nicht. Über dieses Verfahren und seinen Ausgang berichtete der örtliche Ableger einer großen Tageszeitung auf seiner Internetseite unter der Überschrift „Supermarkt-Chef, Kollegen und Schulleiterin verprügelt – Vorsicht, Student sieht Rot!“. Beim Artikel befindet sich ein Foto des Beschwerdeführers aus dem Gerichtsverfahren, das im Augenbereich unkenntlich gemacht ist, auf dem er aber möglicherweise für Bekannte erkennbar ist. Der unter der Abbildung stehende Text identifiziert ihn mit seinem Vornamen und Alter. Der Artikel berichtet in zuspitzender Form über die zugrundeliegenden Taten und verschiedene Äußerungen des Beschwerdeführers im Strafverfahren, wobei ihm u.a. ein „Hang zur Gewalt“ und zu anlasslosen „Ausrastern“ attestiert wird. Das Prozesskostenhilfegesuch des Beschwerdeführers für ein zivilgerichtliches Vorgehen gegen den verantwortlichen Presseverlag wiesen die Zivilgerichte mangels hinreichender Erfolgsaussicht zurück. Auch nicht schwerwiegende Gewalttaten und deren konkrete Umstände und Täter gehörten je nach Einzelfall zu dem die Öffentlichkeit berechtigterweise interessierenden Zeitgeschehen, über das auch individualisierend zu berichten der Presse erlaubt sei. Hier begründeten die besondere Begehungsweise und impulsive Aggressivität der Taten ein hinreichendes Interesse an dem Bericht.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Anspruchs auf Rechtsschutzgleichheit. Schwierige, nicht geklärten Rechtsfragen dürften nicht im Prozesskostenhilfeverfahren entschieden werden.
Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Nach Auffassung des BVerfG ist eine Vorabeinschätzung der Erfolgsaussichten im Prozesskostenhilfeverfahren auch dann zulässig, wenn eine solche Einschätzung – wie etwa regelmäßig im Presse- und Äußerungsrecht – eine abwägende Berücksichtigung der im Einzelfall widerstreitenden grundrechtlich geschützten Interessen voraussetzt. In einer solchen Abwägung liege, obwohl sie mitunter komplexe Wertungsfragen aufwerfe, nicht schon deshalb, weil sie als Einzelfallbeurteilung offen sei, eine „Vorabklärung schwieriger Rechtsfragen“, die im Prozesskostenhilfeverfahren verboten sei. Zugleich hat das BVerfG deutlich gemacht, dass die Zulässigkeit einer identifizierenden Berichterstattung über Strafverfahren einschließlich der Umstände von Tat und Täter im Fall einer Verurteilung nicht generell auf schwere Gewalttaten oder prominente Personen beschränkt ist, sondern von den Umständen des Einzelfalls abhängt. Die Fachgerichte durften deshalb ohne Verletzung der Rechtschutzgleichheit davon ausgehen, dass ein Vorgehen des Beschwerdeführers gegen den Bericht im konkreten Fall nicht hinreichend aussichtsreich war, auch wenn es sich lediglich um einfache Körperverletzungstaten handelte.
Wesentliche Erwägungen des BVerfG:
Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG soll das Institut der Prozesskostenhilfe auch unbemittelten Personen den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht ermöglichen. Maßgeblich für die verfassungsrechtliche Bewertung ist, ob die Fachgerichte den Entscheidungsspielraum, der ihnen bei der Vorabwürdigung der Erfolgsaussichten im Prozesskostenhilfeverfahren nach § 114 ZPO zukommt, überspannen und dadurch den Zweck der Prozesskostenhilfe, einen Gerichtszugang zu gewährleisten, deutlich verfehlen. Die Fachgerichte dürfen Prozesskostenhilfe insbesondere dann nicht versagen, wenn die Entscheidung im Klageverfahren von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt. Sie braucht demgegenüber nicht gewährt zu werden, wenn die entscheidungserhebliche Rechtsfrage angesichts der einschlägigen gesetzlichen Regelung oder der durch die Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen nicht in diesem Sinn als „schwierig“ erscheint. Das gilt insbesondere für abwägende Subsumtionsentscheidungen im Einzelfall, obwohl auch sie komplexe Fragen aufwerfen können. Selbst wenn die Beurteilung der Erfolgsaussichten eine konkret abwägende Subsumtionsentscheidung erfordert, darf eine fachgerichtliche Voreinschätzung daher im Verfahren der Prozesskostenhilfe Berücksichtigung finden, soweit die generellen Maßstäbe dieser Abwägung hinreichend geklärt sind. Andernfalls wäre Prozesskostenhilfe in einzelfallaffinen Rechtsbereichen, etwa im regelmäßig durch konkrete Abwägung von Berichterstattungs- und Persönlichkeitsinteressen bestimmten Äußerungsrecht, fast immer zu gewähren. Das ist mit dem Verbot, „schwierige, bislang ungeklärte Rechtsfragen“ im Prozesskostenhilfeverfahren zu entscheiden, nicht gemeint.
Ausgehend von diesen Maßstäben haben die Fachgerichte bei der ihnen gebührenden Einschätzung der hinreichenden Aussicht auf Erfolg die aus der Rechtschutzgleichheit folgenden Anforderungen gewahrt. Die Gerichte haben ihrer Abschätzung der Erfolgsaussichten zugrunde gelegt, dass eine identifizierende Presseberichterstattung über Strafverfahren und die zugrundeliegenden Taten in zeitlicher Nähe einer Verurteilung nicht generell auf Fälle schwerer Gewaltverbrechen oder öffentlich bekannter Personen beschränkt ist, sondern von den konkreten Umständen des Falles und dem darauf bezogenen öffentlichen Berichterstattungsinteresse abhängt. Dies entspricht dem Stand der – insbesondere auch verfassungsrechtlichen – Rechtsprechung. Die danach gebotene Abwägung hat auch das Gewicht der Straftaten einzubeziehen, aber verstanden als einzelfallbezogener Abwägungsgesichtspunkt, nicht als abstrakt zu klärende Grundsatzfrage.
Die Einschätzung, ob in Anwendung dieser Maßstäbe ein gerichtliches Vorgehen gegen die individualisierende Berichterstattung hinreichend aussichtsreich war, verweist auf den konkreten Einzelfall, ist durch abwägende Würdigung des Inhalts und der Umstände der Berichterstattung, der Tat und ihrer Bedeutung für die Allgemeinheit zu beantworten und daher von vornherein einer allgemeinen Klärung entzogen. Sie ist auch nicht derart schwierig oder maßstäblich offen, dass sie einer antizipierenden Würdigung im Verfahren der Prozesskostenhilfe entgegenstünde. Die für die gerichtliche Einschätzung der Erfolgsaussichten maßgebliche Tatsachengrundlage war zudem in Gestalt des beanstandeten Presseberichts und des zugrundeliegenden Strafurteils aus den Akten ersichtlich.