Der Europäische Gerichtshof hat am 11.06.2020 zum Aktenzeichen C-88/19 entschieden, dass der in der Habitatrichtlinie vorgesehene strenge Schutz bestimmter geschützter Tierarten sich auch auf Exemplare erstreckt, die ihren natürlichen Lebensraum verlassen und in menschlichen Siedlungsgebieten auftauchen.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 72/2020 vom 11.06.2020 ergibt sich:
Daher könnten der Fang und der Transport eines in einem Dorf angetroffenen Wolfs nur gerechtfertigt sein, wenn sie unter eine von der zuständigen nationalen Behörde gewährte Ausnahme fallen, so der EuGH.
Im Jahr 2016 fingen Mitarbeiter einer Tierschutzvereinigung in Begleitung einer Tierärztin einen Wolf, der sich auf dem Grundstück eines Bewohners eines rumänischen Dorfes zwischen zwei großen unter die Habitatrichtlinie fallenden Schutzgebieten aufhielt, ohne vorherige Genehmigung ein und transportierten ihn ab. Der Transport des gefangenen Wolfs in ein Naturreservat lief jedoch nicht wie geplant, und dem Wolf gelang die Flucht in den nahegelegenen Wald. Es wurde Strafanzeige erstattet wegen Delikten im Zusammenhang mit dem Fang und dem Transport eines Wolfs unter unangemessenen Bedingungen. Im Rahmen dieses Strafverfahrens fragt sich das vorlegende Gericht, ob die Schutzbestimmungen der Habitatrichtlinie für den Fang von wildlebenden Wölfen am Rand einer Ortschaft oder im Territorium einer Gebietskörperschaft gelten.
Der EuGH hat entschieden, dass der in der Habitatrichtlinie vorgesehene strenge Schutz bestimmter geschützter Tierarten sich auch auf Exemplare erstreckt, die ihren natürlichen Lebensraum verlassen und in menschlichen Siedlungsgebieten auftauchen.
Der EuGH hat sich zum räumlichen Anwendungsbereich des strengen Schutzsystems für bestimmte Tierarten geäußert, das Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 92/43 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (Richtlinie 92/43/EWG zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen, ABl. 1992, L 206, 7 – im Folgenden: Habitatrichtlinie) vorsieht. Der EuGH hat bestätigt, dass dieses strenge Schutzsystem für die in Anhang IV Buchst. a der Richtlinie genannten Arten, darunter den Wolf, auch für Exemplare gilt, die ihren natürlichen Lebensraum verlassen und in menschlichen Siedlungsgebieten auftauchen.
Nach Auffassung des EuGH haben die Mitgliedstaaten nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Habitatrichtlinie die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um ein strenges Schutzsystem für die geschützten Tierarten „in deren natürlichen Verbreitungsgebieten“ einzuführen, das alle absichtlichen Formen des Fangs oder der Tötung von „aus der Natur entnommenen“ Exemplaren dieser Arten verbietet.
Zum räumlichen Anwendungsbereich dieses Verbots des absichtlichen Fangs oder der absichtlichen Tötung hat der EuGH ausgeführt, dass der Ausdruck „natürliches Verbreitungsgebiet“ in Bezug auf geschützte Tierarten, die – wie der Wolf – große Lebensräume beanspruchen, mehr umfasse als den geografischen Raum, der die für ihr Leben und ihre Fortpflanzung ausschlaggebenden physischen und biologischen Elemente aufweise, und somit dem geografischen Raum entspreche, in dem sich die betreffende Tierart im Rahmen ihres natürlichen Verhaltens aufhalte bzw. ausbreite. Daraus folge, dass der durch Art. 12 Abs. 1 der Habitatrichtlinie gewährte Schutz keine Abgrenzungen oder Grenzen kenne, so dass ein wildlebendes Exemplar einer geschützten Tierart, das sich in der Nähe oder innerhalb von menschlichen Siedlungsgebieten befinde, das solche Gebiete durchquere oder sich von Ressourcen ernähre, die der Mensch erzeuge, nicht als ein Tier angesehen werden könne, das sein „natürliches Verbreitungsgebiet“ verlassen habe. Diese Auslegung werde auch durch die Definition in Art. 1 Abs. 1 Buchst. f des Übereinkommens zur Erhaltung der wandernden wildlebenden Tierarten (Übereinkommen zur Erhaltung der wandernden wildlebenden Tierarten, das am 23.06.1979 in Bonn unterzeichnet und mit dem Beschluss 82/461/EWG, ABl. 1982, L 210, 10, im Namen der Gemeinschaft geschlossen wurde) gestützt, wonach der Begriff „Verbreitungsgebiet“ einer Art sämtliche Gebiete jedweder Natur, die diese Art durchquert, berücksichtige.
Daher ließen sich nach dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Habitatrichtlinie, der den absichtlichen Fang oder die absichtliche Tötung von „aus der Natur entnommenen“ Exemplaren der geschützten Arten verbiete, die menschlichen Siedlungsgebiete nicht vom Schutzbereich dieser Bestimmung ausnehmen. Die Verwendung des Ausdrucks „aus der Natur“ soll nur klarstellen, dass die Verbote in dieser Bestimmung nicht zwangsläufig für Exemplare gelten, die in einer legalen Form der Gefangenschaft gehalten werden.
Durch die Auslegung, wonach der in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Habitatrichtlinie vorgesehene Schutz keine engen Abgrenzungen oder Grenzen kenne, lasse sich auch das mit dieser Richtlinie verfolgte Ziel erreichen. Es gehe nämlich darum, die betreffenden Arten nicht nur an bestimmten Orten zu schützen, die restriktiv definiert werden, sondern auch ihnen angehörende Exemplare zu schützen, die in der Natur bzw. in freier Wildbahn leben und damit eine Funktion in natürlichen Ökosystemen erfüllen. Wölfe lebten in zahlreichen Regionen der Union – wie auch im vorliegenden Fall – in vom Menschen beanspruchten Gebieten und die Anthropisierung dieser Räume habe auch zu einer teilweisen Anpassung der Wölfe an diese neuen Bedingungen geführt. Außerdem trügen die Entwicklung der Infrastrukturen, die illegale Waldbewirtschaftung, die landwirtschaftlichen Betriebe und bestimmte industrielle Tätigkeiten dazu bei, auf die Wolfspopulation und ihren Lebensraum Druck auszuüben.
Daher sei der EuGH zu dem Ergebnis gelangt, dass die Verpflichtung, die geschützten Tierarten streng zu schützen, für das gesamte „natürliche Verbreitungsgebiet“ dieser Arten gelte, unabhängig davon, ob sie sich in ihrem gewöhnlichen Lebensraum, in Schutzgebieten oder aber in der Nähe menschlicher Niederlassungen befänden.
Was die Handhabung von Fällen betreffe, die eintreten könnten, wenn ein Exemplar einer geschützten Tierart mit Menschen oder ihrem Eigentum in Kontakt trete, insbesondere Konflikte, die sich aus der Beanspruchung der natürlichen Räume durch den Menschen ergeben, hat der EuGH sodann darauf hingewiesen, dass es den Mitgliedstaaten obliege, einen vollständigen gesetzlichen Rahmen zu schaffen, der gemäß Art. 16 Abs. 1 Buchst. b und c der Habitatrichtlinie Maßnahmen zur Verhütung ernster Schäden insbesondere an Kulturen oder in der Tierhaltung oder Maßnahmen im Interesse der Volksgesundheit und der öffentlichen Sicherheit oder aus anderen zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses, einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art, umfassen könne.
Somit hat der EuGH bestätigt, dass der Fang und der Transport eines Exemplars einer geschützten Tierart wie des Wolfs nur im Rahmen einer von der zuständigen nationalen Behörde auf der Grundlage von Art. 16 Abs. 1 Buchst. b und c der Habitatrichtlinie gewährten Ausnahme, die u.a. auf Gründe der öffentlichen Sicherheit gestützt ist, erfolgen dürfen.