Wirksame Einspruchsrücknahme am Tag der Bekanntgabe der verbösernden Einspruchsentscheidung außerhalb der Drei-Tages-Fiktion

16. Juni 2021 -

Das Finanzgericht Hannover hat am 03.05.2021 zum Aktenzeichen 9 K 168/20 – soweit ersichtlich – als erstes Finanzgericht zu der Frage Stellung genommen, ob eine Einspruchsrücknahme (§ 362 Absatz 1 AO) auch dann noch bis zum Ablauf des Tages des tatsächlichen Zugangs der verbösernden Einspruchsentscheidung wirksam ist, wenn deren Bekanntgabe nach Ablauf der Drei-Tages-Frist des § 122 Absatz 2 Nummer 1 AO erfolgt.

Aus dem Newsletter des FG Hannover Nr. 8/2021 vom 16.06.2021 ergibt sich:

Zuvor hatte der Bundesfinanzhof bereits mit Urteil vom 26.2.2002 (X R 44/00, BFH/NV 2002, 1409) entschieden, dass – bei Zugang der verbösernden Einspruchsentscheidung innerhalb der Drei-Tages-Bekanntgabefrist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO – eine vorherige Kenntnis des Inhalts unschädlich und Rücknahme des Einspruchs noch bis zum Ablauf der Drei-Tages-Frist zulässig ist.

Im zugrunde liegenden Sachverhalt hatten die steuerlichen Berater des Klägers – nach vorheriger Androhung einer Verböserung durch das beklagte Finanzamt (FA) – den Einspruch am 22.10.2019 (Faxeingang beim FA um 18:57 Uhr) zurückgenommen. Nachdem das FA den Kläger auf die vermeintlich zuvor erfolgte Bekanntgabe mit Ablauf des drittens Tages nach der Aufgabe zur Post (21.10.2019) und die Unwirksamkeit der Rücknahme hinwiesen hatten, erbrachten die steuerlichen Berater den Nachweis, dass die Einspruchsentscheidung erst am 22.10.2019 tatsächlich in ihrem Büro  eingegangen war. Der genaue Zeitpunkt des Zugangs innerhalb des Tages konnte nicht festgestellt werden. Das FA ging jedoch davon aus, dass der tatsächliche Zugang der Einspruchsentscheidung jedenfalls vor dem Eingang der Rücknahme erfolgt sein müsse und lehnte aufgrund dessen eine Aufhebung der Einspruchsentscheidung ab. Selbst bei Wirksamkeit der Rücknahme müsse die Einspruchsentscheidung bestehen bleiben, denn hierin sei gleichzeitig eine ändernde Festsetzung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu sehen, die noch vor Ablauf der Festsetzungsverjährungsfrist erfolgt sei. Der Kläger vertrat dagegen die Auffassung, dass eine Rücknahme aus Gleichbehandlungsgründen auch bei Bekanntgabe außerhalb der Drei-Tages-Frist noch bis zum Ablauf des Zugangstages möglich sein müsse. In der verbösernden Einspruchsentscheidung sei zugleich kein Änderungsbescheid zu sehen. Ein solcher könne auch nicht mehr ergehen, weil die reguläre Festsetzungsfrist bereits abgelaufen und Festsetzungsverjährung nur wegen des zuvor noch laufenden Einspruchsverfahrens noch nicht eingetreten sei (§ 171 Abs. 3a AO).

Das Niedersächsische FG hat der Klage stattgegeben. Aus teleologischen, gesetzessystematischen und letztlich auch verfassungsrechtlichen Erwägungen heraus ist es aus Sicht des 9. Senats des FG geboten, § 362 Abs. 1 i.V.m. § 122 Abs. 2 AO so auszulegen, dass eine Rücknahme des Einspruchs zur Vermeidung einer verbösernden Einspruchsentscheidung auch dann noch bis zum Ablauf des Bekanntgabetages wirksam ist, wenn der tatsächliche Zugang außerhalb der Drei-Tages-Frist des § 122 Abs. 2 AO erfolgt. Der Senat geht davon aus, dass der Gesetzgeber in der Vorschrift des § 362 Abs. 1 AO, die die Rücknahme eines Einspruchs „bis zur Bekanntgabe der Entscheidung über den Einspruch“ ermöglicht, durch die Bezugnahme auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe den Ablauf des Tages der Bekanntgabe gemeint hat und nicht den stunden-, minuten- und sekundengenauen Zeitpunkt des tatsächlichen Zugangs. Da die Verfahrensordnung ein Festhalten eines exakten Zugangszeitpunktes nicht vorsieht und dieses von den Beteiligten daher in der Regel auch nicht vorgenommen wird, würde eine andere Auslegung im Übrigen letztlich immer darauf hinauslaufen, dass im Konfliktfall eine Entscheidung über die Wirksamkeit der Rücknahme mangels tatsächlicher Feststellungen zu einer Beweislastfrage würde. Eine solche Gesetzesauslegung, die als Folge in der Rechtsanwendung nicht praktisch handhabbar ist und – abgesehen von krassen Ausnahmefällen – in Konfliktfällen nur zu Beweislastentscheidungen führen kann, kann – so das FG – gerade auch angesichts des Gesetzeszwecks des § 362 Abs. 1 AO nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprechen. Das FG hat schließlich ausgeschlossen, dass eine verbösernde Einspruchsentscheidung gleichzeitig ein Änderungsbescheid nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ist.

Das Niedersächsische FG hat die Revision zugelassen, da die streitentscheidenden Rechtsfragen noch nicht Gegenstand der Finanzrechtsprechung gewesen sind (Revisionsaktenzeichen des BFH: IX R 16/21)