Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 233 ZPO – Anwendung des BGH verfassungswidrig

11. Oktober 2024 -

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 12. Juli 2024 zum Aktenzeichen 1 BvR 835/23 entschieden, dass der Bundesgerichtshof den aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Anspruch des Beschwerdeführers auf Rechtsschutzgleichheit sowie den aus Art. 103 Abs. 1 GG folgenden Anspruch auf rechtliches Gehör durch den angegriffenen Beschluss vom 11. Januar 2023 verletzt hat.

Das Grundrecht auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Prinzip des sozialen Rechtsstaats aus Art. 20 Abs. 3 GG gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 78, 104 <117 f.>; 81, 347 <357> m.w.N.). Es ist dabei verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. August 2016 – 1 BvR 380/16 -, Rn. 12). Auch der Anspruch des Rechtsschutzsuchenden auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) wird durch die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand berührt. Dieses Rechtsinstitut dient der Wahrung des Anspruchs aus Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 25, 158 <166>; 26, 315 <318>; 77, 275 <285 f.>). Wird die Wiedereinsetzung versagt, so wird dem Rechtsschutzsuchenden die Möglichkeit, seine Einwände wirksam vorzubringen, genommen.

Das gerichtliche Verfahren und die Ausübung der Rechte aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 103 Abs. 1 GG bedürfen der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber, die an dem Ziel, dem Betroffenen wirksamen Rechtsschutz und eine effektive Äußerungsmöglichkeit zu vermitteln, zu messen ist. Die Ausgestaltung muss zweckgerichtet, geeignet, erforderlich und zumutbar sein und darf keine unangemessenen prozessrechtlichen Hürden für den Zugang zu den Gerichten und die Gewährung rechtlichen Gehörs eröffnen (vgl. BVerfGE 60, 253 <268 f.>; 84, 34 <49>). Der Zugang zu einer gerichtlichen Entscheidung in der Sache darf daher – vorbehaltlich verfassungsunmittelbarer Schranken – in keinem Fall ausgeschlossen, faktisch unmöglich gemacht oder in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.>; 44, 302 <305 f.>; 149, 346 <363 Rn. 34>). Die Auslegung und Anwendung des § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO und der Regelungen über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 233 ZPO wie auch des jeweils einschlägigen einfachen Rechts obliegt hierbei in erster Linie den zuständigen Fachgerichten, die dabei von Verfassungs wegen den Zweck der Prozesskostenhilfe zu beachten haben. Die Fachgerichte müssen bei der Auslegung solcher Normen das Ziel der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes beachten. Auch hier darf der Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (BVerfGE 77, 275 <284> m.w.N.; stRspr.).

Zulässig ist es, den Zugang zu den Gerichten von der Erfüllung formeller Voraussetzungen, insbesondere von der Einhaltung bestimmter Fristen, abhängig zu machen (vgl. BVerfGE 9, 194 <199 f.>; 10, 264 <267 f.>). Die Anforderungen, die an den Rechtsschutzsuchenden dabei gestellt werden, dürfen jedoch nicht überspannt werden (vgl. BVerfGE 25, 158 <166>; 26, 315 <318>; 31, 388 <390>). Prozessuale Fristen dürfen deshalb bis zu ihrer Grenze ausgenutzt werden (vgl. BVerfGE 40, 42 <44>; 41, 323 <328>; 52, 203 <207>; 69, 381 <385>; BGH, Beschluss vom 8. Mai 2018 – VI ZB 5/17 -, NJW-RR 2018, S. 958 <959>; jeweils m.w.N.). Dass ein Betroffener bis zum letzten Tag der Frist abwartet, ehe er eine fristgebundene prozessrechtliche Erklärung abgibt, kann ihm daher grundsätzlich nicht vorgeworfen werden. Etwaige Fristversäumungen, die auf Verzögerungen durch das Gericht beruhen, dürfen dem Betroffenen nicht angelastet werden (BVerfGE 44, 302 <306>; 69, 381 <386>). Verfassungsrechtlich unbedenklich ist es dagegen, wenn dem Betroffenen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen eines Fristversäumnisses versagt werden kann, es sei denn dieses erfolgt ohne Verschulden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Februar 2023 – 2 BvR 653/20 -, Rn. 22). Der Betroffene hat beispielsweise den Aufwand zu kalkulieren, der zeitlich und organisatorisch erforderlich ist, um den rechtzeitigen Eingang seiner Prozesserklärung in der vorgeschriebenen Form zu ermöglichen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. März 2014 – 1 StR 74/14 -, Rn. 6).

Die Auslegung des § 233 ZPO durch den Bundesgerichtshof in dem angegriffenen Beschluss dürfte den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht gerecht werden und gegen die Rechte auf effektiven und gleichen Rechtsschutz aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG und auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen, soweit der Bundesgerichtshof der Nichtzulassungsbeschwerde des Beschwerdeführers bereits hinreichende Erfolgsaussichten abspricht, weil die Frist zur Erhebung der Nichtzulassungsbeschwerde bei Eingang der vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen am 8. Juni 2022 bereits abgelaufen gewesen sei und eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Betracht komme, ohne dass sich der Bundesgerichtshof erkennbar damit auseinandersetzt, ob der Beschwerdeführer den vollständigen Prozesskostenhilfeantrag nebst Anlagen unverschuldet erst nach Ablauf der Rechtsmitteleinlegungsfrist eingereicht hat.

Versäumt ein Rechtsmittelführer unverschuldet die Frist zur Einlegung eines Rechtsmittels, so ist diesem unter den Voraussetzungen der §§ 234, 236 ZPO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass eine Partei, die eine fristwahrende Maßnahme wegen Mittellosigkeit nicht rechtzeitig vornehmen kann, die Fristversäumung grundsätzlich nicht verschuldet, wenn wenigstens fristgerecht ein Gesuch auf Prozesskostenhilfe beim zuständigen Gericht für die fristwahrende Handlung eingereicht wird. Einer bedürftigen Partei, die ein Rechtsmittel einlegen will, ist grundsätzlich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen schuldloser Fristversäumung (§ 233 ff. ZPO) zu gewähren, wenn sie bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist ein Prozesskostenhilfegesuch eingereicht hat und sie vernünftigerweise nicht mit der Verweigerung der Prozesskostenhilfe rechnen musste (vgl. BGH, Beschluss vom 16. November 2010 – VIII ZB 55/10 -, NJW 2011, S. 230 <230> m.w.N.). Die letztgenannte Voraussetzung ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs allerdings regelmäßig nur dann erfüllt, wenn dem fristgerecht gestellten Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe eine ordnungsgemäß ausgefüllte Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nebst den erforderlichen Belegen beigefügt worden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 16. November 2010 – VIII ZB 55/10, a.a.O.; Beschluss vom 2. April 2008 – XII ZB 131/06, Rn. 11; jeweils m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die im Grundsatz verfassungsrechtlich unbedenklich ist, gehört es zu den Pflichten einer unbemittelten Partei, in Fällen, in denen eine fristgebundene Prozesshandlung vorzunehmen ist, die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe innerhalb der Frist ordnungsgemäß unter Einreichung des hierfür vorgesehenen Vordrucks (§ 117 Abs. 4 ZPO) und unter Beifügung der erforderlichen Belege darzulegen (BGH, Beschluss vom 13. Mai 2014 – XI ZB 20/13 -, Rn. 7 m.w.N.).

Für den Fall, dass eine Partei ohne ihr Verschulden einen Prozesskostenhilfeantrag nicht oder nicht vollständig innerhalb der Frist zur Rechtsmitteleinlegung beim zuständigen Gericht einreicht, ist aus dem Gesichtspunkt der verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechtsschutzgleichheit (Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) und dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) geboten, dass der bedürftige Rechtsschutzsuchende die Möglichkeit hat, dass ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird. Dass für den Prozesskostenhilfeantrag per se keine Frist im Sinne des § 233 ZPO versäumt werden kann, weil dieser nicht fristgebunden ist, rechtfertigt keine Ungleichbehandlung mit einem Rechtsschutzsuchenden, der – ohne auf Prozesskostenhilfe angewiesen zu sein – die Rechtsmitteleinlegungsfrist unverschuldet versäumt hat. Letzterem ist ohne Weiteres unter den Voraussetzungen der §§ 234, 236 ZPO Wiedereinsetzung zu gewähren (vgl. § 233 ZPO). Entsprechend dieser verfassungsrechtlich gebotenen Auslegung des § 233 ZPO hat der Bundesgerichtshof in seiner bisherigen – soweit ersichtlich – ständigen Rechtsprechung entschieden, dass eine Wiedereinsetzung grundsätzlich in Betracht kommt, sofern auch der verspätete Eingang des Prozesskostenhilfeantrags nebst Anlagen unverschuldet ist und innerhalb der Frist des § 234 ZPO nachgeholt wird (BGH, Beschluss vom 21. Februar 2002 – IX ZA 10/01 -, NJW 2002, S. 2180 <2180>; BGH, Beschluss vom 29. Juni 2010 – VI ZA 3/09 -, Rn. 5 ff.; Beschluss vom 21. Februar 2019 – IX ZR 226/18 -, Rn. 4 ff.; jeweils m.w.N.).

Soweit der Bundesgerichtshof in der gegenständlich angegriffenen Entscheidung – wohl von seiner bisherigen Rechtsprechung abrückend – davon ausgeht, dass eine Partei, die ihr Gesuch um Bewilligung von Prozesskostenhilfe für ein Rechtsmittelverfahren nicht unter Verwendung der vorgeschriebenen Vordrucke und Beifügung aller erforderlichen Unterlagen innerhalb der Rechtsmittelfrist eingereicht habe, – verschuldensunabhängig im Hinblick auf den Grund, warum die vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen nicht fristgemäß bei Gericht eingegangen sind – nicht ohne ihr Verschulden verhindert sei, die Frist zur Einlegung des Rechtsmittels einzuhalten, liegt ein Verstoß gegen die verfassungsrechtlich gewährleistete Rechtsschutzgleichheit und gegen das Recht auf rechtliches Gehör vor. Der Bundesgerichtshof hat weder in der angegriffenen Entscheidung noch in der Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag und die Anhörungsrüge erkennbar geprüft, ob der verspätete Eingang der Prozesskostenhilfeunterlagen erst nach Ablauf der Rechtsmitteleinlegungsfrist unverschuldet war. Eine entsprechende Prüfung hat sich spätestens durch den Antrag des Beschwerdeführers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Anhörungsrüge aufgedrängt, weil der Beschwerdeführer vortrug, er habe versucht den Prozesskostenhilfeantrag nebst Anlagen rechtzeitig am 7. Juni 2022 per Telefax an den Bundesgerichtshof zu versenden, jedoch seien dabei technische Probleme aufgetreten, die es dem Beschwerdeführer nicht erkennbar gemacht hätten, dass die gesamten Unterlagen nicht rechtzeitig übermittelt worden seien.