Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 22. September 2021 zum Aktenzeichen 2 BvR 955/17 entschieden, dass eine Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet ist.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Behandlung eines Rechtsschutzantrags, der sich gegen eine richterlich angeordnete Unterbringung im Transitbereich eines Flughafens richtete.
Auf Antrag der Bundespolizei ordnete das Amtsgericht Frankfurt am Main (nachfolgend: das Amtsgericht) mit Beschluss vom 14. September 2016 im Wege einstweiliger Anordnung auf Grundlage von § 427 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (nachfolgend: FamFG) in Verbindung mit § 15 Abs. 6 Satz 2 bis 5, Abs. 5 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (nachfolgend: AufenthG) die vorläufige Unterbringung des Beschwerdeführers im Transitbereich des Flughafens Frankfurt am Main bis zum 26. Oktober 2016 an. Mit Schriftsatz vom 10. Oktober 2016 beantragte der Beschwerdeführer, die Haftanordnung „aufzuheben und den Betroffenen sofort in Freiheit zu setzen“. Weiter beantrage er, „festzustellen, dass der angefochtene Beschluss den Betroffenen seit Stellung des Haftaufhebungsantrags in seinen Rechten verletzt hat“. Am Ende des Schriftsatzes heißt es: „Nach Akteneinsicht wird die Beschwerde begründet“.
Mit angegriffenem Beschluss vom 19. Oktober 2016 half das Amtsgericht der „nicht näher begründeten Beschwerde “ (Hervorhebung nur hier) aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses nicht ab. Darüber hinaus werde darauf hingewiesen, dass „die Beschwerde verfristet sein dürfte“ (Hervorhebung nur hier).
Der Beschwerdeführer teilte gegenüber dem Amtsgericht mit, er verstehe den Nichtabhilfebeschluss nicht. Er habe keine Beschwerde eingelegt; sie wäre in der Tat verfristet. Vielmehr habe er einen „eigenständigen Haftaufhebungsantrag“ gestellt.
Das Landgericht Frankfurt am Main (nachfolgend: das Landgericht) antwortete ihm daraufhin, dass man den Schriftsatz vom 10. Oktober 2016 aufgrund der Formulierung „Nach Akteneinsicht wird die Beschwerde begründet“ als Beschwerde ansehe. Die Beschwerde sei indessen offensichtlich verfristet. Man frage daher an, ob die Beschwerde zurückgenommen werde.
Der Beschwerdeführer bemerkte nunmehr mit Schriftsatz vom 20. Oktober 2016 nochmals, dass er im Schriftsatz vom 10. Oktober 2016 einen Haftaufhebungsantrag gestellt und nicht Beschwerde eingelegt habe. Seine Formulierung, wonach er „die Beschwerde“ begründe, sei unerheblich. Relevant seien vielmehr die in diesem Schriftsatz ausdrücklich gestellten Anträge.
Mit angegriffenem Beschluss vom 21. Oktober 2016 verwarf das Landgericht „die Beschwerde“ als unzulässig. Im Sachbericht seiner Entscheidung referiert das Landgericht das Begehren aus dem Schriftsatz vom 10. Oktober 2016 dahingehend, dass sich der Beschwerdeführer „unter Antragstellung“ gegen den Haftanordnungsbeschluss gewandt habe. Dabei habe er ausgeführt, dass nach Akteneinsicht die Beschwerde begründet werde. Zur Begründung führt das Landgericht aus, dass es sich bei dem Schriftsatz vom 10. Oktober 2016 um eine Beschwerde handele. Dies ergebe sich aus der Formulierung im Antrag, wo es heiße, „… festzustellen, dass der angefochtene Beschluss den Betroffenen …“ und insbesondere aus der Formulierung, dass nach Akteneinsicht die Beschwerde begründet werde. Die Beschwerde sei verfristet.
Der Entscheidung des Landgerichts ist eine Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt. Darin heißt es, die Entscheidung könne mit der Rechtsbeschwerde angefochten werden.
Nach dieser Beschlussfassung leitete das Landgericht die Akte dem Amtsgericht zu. Das Amtsgericht möge über den durch den Schriftsatz vom 20. Oktober 2016 gesondert gestellten Haftaufhebungsantrag entscheiden. Das Amtsgericht traf eine gesonderte Entscheidung über den Haftaufhebungsantrag indessen nicht. Es ging davon aus, das Verfahren sei durch die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts insgesamt abgeschlossen.
Die gegen die landgerichtliche Entscheidung erhobene Rechtsbeschwerde wies der Bundesgerichtshof mit angegriffenem Beschluss vom 16. März 2017, zugestellt am 11. April 2017, zurück. Die Rechtsbeschwerde sei nach § 70 Abs. 4 FamFG nicht statthaft. Allerdings beanstande der Beschwerdeführer zu Recht, dass das Landgericht von einer Beschwerde gegen die Haftanordnung des Amtsgerichts ausgegangen sei. Der Schriftsatz vom 10. Oktober 2016 enthalte „eindeutig (nur) einen Antrag auf Aufhebung der Haft“.
Dem Beschwerdeführer ist jedoch auf seinen Antrag hin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Nach § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist eine Verfassungsbeschwerde binnen eines Monats zu erheben und zu begründen. Nach Satz 2 beginnt die Frist mit der Zustellung oder formlosen Mitteilung der in vollständiger Form abgefassten Entscheidung, wenn diese nach den maßgebenden verfahrensrechtlichen Vorschriften von Amts wegen vorzunehmen ist. Dabei hält die Einlegung eines offensichtlich unstatthaften Rechtsmittels die Verfassungsbeschwerdefrist nicht offen.
Hier wäre die Verfassungsbeschwerde nur dann fristgerecht erhoben worden, wenn es für die Fristberechnung auf die Zustellung der Entscheidung des Bundesgerichtshofs über die Rechtsbeschwerde ankäme. Die Rechtsbeschwerde war jedoch offensichtlich unstatthaft. Seine dahingehende Entscheidung hat der Bundesgerichtshof mit einem Verweis auf die Vorschrift des § 70 Abs. 4 FamFG begründet. Dieser unmittelbar nachvollziehbaren Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs ist auch der Beschwerdeführer nicht substantiiert entgegengetreten.
Dem Beschwerdeführer ist auf seinen Antrag hin jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Nach § 93 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dann zu gewähren, wenn ein Beschwerdeführer ohne Verschulden verhindert war, die Frist zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde einzuhalten. Der Antrag ist nach § 93 Abs. 2 Satz 2, 3 BVerfGG binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen, wobei die Tatsachen zur Begründung des Antrags bei der Antragstellung glaubhaft zu machen sind. Anerkannt ist dabei, dass eine fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung ein fehlendes Verschulden an der Fristwahrung begründen und damit die Gewährung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gebieten kann.
Danach liegen die Voraussetzungen für die Gewährung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vor. Das Landgericht hat seine Entscheidung mit einer fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung versehen, wonach die Rechtsbeschwerde gegen seine Entscheidung statthaft sei. Damit trifft den Beschwerdeführer an der Fristversäumung kein Verschulden, denn er durfte jedenfalls im vorliegenden Fall auf die Rechtsbehelfsbelehrung vertrauen und sein weiteres Prozessverhalten daran ausrichten. Weil das Amts- und das Landgericht sein Rechtsschutzziel unzutreffend aufgefasst hatten, war die Rechtslage hinsichtlich der Statthaftigkeit eines weiteren Rechtsmittels nicht vollständig klar. Die Erhebung der Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof entsprach der Rechtsbehelfsbelehrung. Nachdem der Beschwerdeführer durch die Zustellung der Entscheidung des Bundesgerichtshofs am 11. April 2017 Kenntnis von der Unstatthaftigkeit der Rechtsbeschwerde erlangt hatte, hat er mit Erhebung der Verfassungsbeschwerde, die am 25. April 2017 eingegangen ist, einen Wiedereinsetzungsantrag gestellt. Damit hat er die Zwei-Wochen-Frist des § 93 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG gewahrt. Der Antrag genügt auch den Begründungsanforderungen, denn er hat auf die unzutreffende Rechtsbehelfsbelehrung hingewiesen und die Entscheidung des Landgerichts mit dem Wiedereinsetzungsantrag übermittelt.
Der Beschwerdeführer verfügt über das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Zwar hat der Bundesgerichtshof ausgeführt, dass das Rechtsschutzbegehren des Beschwerdeführers vom Amts- und Landgericht als Haftaufhebungsantrag hätte behandelt werden müssen. Entscheidungserheblich waren jedoch alleine die Ausführungen zur fehlenden Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde nach § 70 Abs. 4 FamFG. Zu einer Aufhebung der Entscheidungen des Amts- und des Landgerichts und damit zu einer dem Rechtsschutzziel entsprechenden Sachentscheidung kam es gerade nicht.
Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit sie zulässig ist, auch begründet. Die angegriffenen Entscheidungen des Amts- und Landgerichts verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.
Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet einen möglichst lückenlosen gerichtlichen Schutz gegen die Verletzung der Rechtssphäre des Einzelnen durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt. Danach besteht nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern der Bürger hat einen Anspruch auf tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle. Der Zugang zu einer gerichtlichen Entscheidung in der Sache darf – vorbehaltlich verfassungsunmittelbarer Schranken – nicht ausgeschlossen, faktisch unmöglich gemacht oder in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Auf die Gewährleistung eines dermaßen wirkungsvollen Rechtsschutzes hat der Einzelne einen verfassungsmäßigen Anspruch.
Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gebietet daher den Gerichten, das Verfahrensrecht so anzuwenden, dass den erkennbaren Interessen des rechtssuchenden Bürgers bestmöglich Rechnung getragen wird. Legt ein Gericht den Verfahrensgegenstand in einer Weise fest, die das vom Antragsteller erkennbar verfolgte Rechtsschutzziel ganz oder in wesentlichen Teilen außer Betracht lässt, und verstellt es sich dadurch die – an sich gebotene – Sachprüfung des erhobenen Begehrens, so liegt darin eine sachlich nicht nachvollziehbare Rechtswegverkürzung, die den Rechtsschutzanspruch des Betroffenen nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG im Grundsätzlichen missachtet.
Diesen Anforderungen genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht. Dass das Amts- und das Landgericht das an sie herangetragene Rechtsschutzbegehren als – verfristete – Beschwerde und nicht als Haftaufhebungsantrag verstanden haben, war sachlich nicht mehr vertretbar. Der Beschwerdeführer hat bereits seinen Antrag vom 10. Oktober 2016 dahingehend formuliert, dass er begehre, den Haftanordnungsbeschluss „aufzuheben“.
Das Amtsgericht ist auf den Wortlaut des Antrags nicht eingegangen und hat ohne weitere Begründung eine Nichtabhilfeentscheidung über eine „Beschwerde“ getroffen. Obwohl es auf den Ablauf der Beschwerdefrist hinweist, berücksichtigt das Amtsgericht auch diesen Umstand bei der Auslegung des Rechtsschutzbegehrens nicht. Sachdienlich und rechtsschutzfreundlich wäre mit Blick auf die Unzulässigkeit der Beschwerde eine Auslegung des Begehrens als Haftaufhebungsantrag gewesen.
Das Landgericht hat bereits im Sachbericht seiner Entscheidung den Inhalt des Schriftsatzes vom 10. Oktober 2016 in einer Weise referiert, die das erkennbar verfolgte Rechtsschutzziel – die Entscheidung über einen Haftaufhebungsantrag – verschleiert. So spricht das Landgericht einerseits nur knapp von der „Antragstellung“, obwohl hier gerade der Wortlaut des Antrags maßgeblich für das Verständnis des Rechtsschutzziels war. Andererseits wiederholt es wörtlich das Bemerken aus dem Schriftsatz, wonach die Beschwerde nach Akteneinsicht begründet werde.
Seine Entscheidung begründet das Landgericht sodann, ohne den vollständigen Wortlaut der gestellten Anträge zu würdigen. Vielmehr geht es auf den Wortlaut nur insoweit ein, als er das von ihm angenommene Verständnis der Anträge stützt. So verweist das Landgericht zwar zutreffend darauf, dass der Beschwerdeführer formuliert habe, er begehre festzustellen, dass „der angefochtene Beschluss“ den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzt habe. Es verhält sich aber nicht dazu, dass der Antrag vollständig lautet, man begehre „festzustellen, dass der angefochtene Beschluss den Betroffenen seit Stellung des Haftaufhebungsantrags in seinen Rechten verletzt hat“ (Hervorhebung nur hier). Außerdem verweist das Landgericht darauf, dass der Beschwerdeführer formuliert habe, die Beschwerde werde nach Akteneinsicht begründet. Es geht aber nicht auf den Hauptantrag ein, in dem von einer Beschwerde nicht die Rede ist, sondern in dem es vielmehr heißt, es werde begehrt, den Haftanordnungsbeschluss „aufzuheben“. Bei einer Gesamtbetrachtung des Schriftsatzes hätte sich der Schluss aufdrängen müssen, dass es sich bei dem Bemerken, die Beschwerde werde nach Akteneinsicht begründet, lediglich um einen marginalen und offensichtlich als solchen erkennbaren Formulierungsfehler gehandelt hat.
Darüber hinaus geht das Landgericht nicht auf den Schriftverkehr ein, der nach der hier angegriffenen Entscheidung des Amtsgerichts stattgefunden hat. Darin hat der Beschwerdeführer sein Rechtsschutzanliegen unmissverständlich formuliert. Er hat in zwei Schriftsätzen ausdrücklich zwischen der Beschwerde einerseits und dem Haftaufhebungsantrag andererseits unterschieden und klargestellt, dass er einen Haftaufhebungsantrag gestellt habe. Sofern dem Schriftsatz vom 10. Oktober 2016 ein eindeutiges Rechtsschutzbegehren noch nicht entnehmbar gewesen sein sollte, war das Rechtsschutzbegehren jedenfalls durch den Schriftverkehr, der vor der landgerichtlichen Entscheidung stattgefunden hat, zweifelsfrei klargestellt.
Die Verfassungsverletzung, die sich aus der angegriffenen Entscheidung des Landgerichts ergibt, entfällt auch nicht dadurch, dass das Landgericht die Akte nach seiner Entscheidung dem Amtsgericht zugeleitet hat, um eine Entscheidung über den vermeintlich erst durch den Schriftsatz vom 20. Oktober 2016 gesondert gestellten Haftaufhebungsantrag herbeizuführen. Eine Sachentscheidung über den ursprünglichen Antrag vom 10. Oktober 2016 sowie über die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haft ab diesem Zeitpunkt war nach dem Verständnis des Landgerichts auf diesem Weg nicht zu erreichen. Dass eine Entscheidung des Amtsgerichts nach der Aktenübersendung durch das Landgericht nicht ergangen ist, begründet demzufolge keine weitere Beschwer.