Das Landesarbeitsgericht Köln hat mit Urteil vom 13.05.2020 zum Aktenzeichen 6 Sa 663/19 die Frage entschieden, wodurch der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert werden kann.
Eine erschlichene Entgeltfortzahlung oder eine Arbeitsverweigerung bei vorgetäuschter Arbeitsunfähigkeit ergibt sich nicht aus den Darlegungen der Beklagten, nicht einmal Indizien, die den Beweiswert der ihr vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttern könnten. Ihr lagen die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor, sie in Kontakt zur Krankenkasse des Klägers, sie hat nicht gemäß § 275 Abs. 1 a Satz 3 SGB V ein Gutachten des medizinischen Dienstes verlangt und sie kann sich daher als Indiz für ein vertragswidriges Erschleichen einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung weder auf die Dauer der Krankheitsphase noch auf die Häufigkeit der Bescheinigungen berufen. In der Regel ist nämlich der Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung iSd. § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG geführt. Die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Ihr kommt ein hoher Beweiswert zu. Das Gericht kann normalerweise den Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als erbracht ansehen, wenn der Arbeitnehmer im Rechtsstreit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt (BAG v. 26.10.2016 – 5 AZR 167/16 –). Der Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist erschüttert, wenn die vom Arbeitgeber vorgetragenen Tatsachen zu ernsthaften Zweifeln an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit Anlass geben. Hiernach kommen als Tatsachen, die eine Erschütterung des Beweiswertes begründen können, zum Beispiel in Betracht (vgl. Griese in: Küttner Personalbuch 2020 Nr. 54 Rn. 6 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung):
- Arbeit während der Arbeitsunfähigkeit bei einem Konkurrenzunternehmen;
- Erteilung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ohne Untersuchung oder nur nach telefonischer Rücksprache;
- Offenkundige Verkennung des Krankheitsbegriffs in der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung selbst;
- Ankündigung einer Erkrankung durch den Arbeitnehmer;
- Rückwirkende Datierung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung;
- Erkrankung nach Ablehnung eines Urlaubsantrages im beantragten Urlaubszeitraum;
- Wiederholte Erkrankung von ausländischen Arbeitnehmern jeweils im Anschluss an den Heimaturlaub;
- Umbuchung eines Urlaubsrückflugs vor Krankschreibung auf den Tag des Endes der Krankschreibung;
- Wiederholte gemeinsame und gleichzeitige Erkrankung von Ehegatten nach Urlaubsende;
- Unentschuldigte Nichtbefolgung einer Vorladung zur vertrauensärztlichen Untersuchung;
- Durchführung von beschwerlichen Reisen während der Arbeitsunfähigkeit;
- Strapaziöse sportliche Betätigungen während der Krankheit;
- Mit einer Arbeitsunfähigkeit unvereinbare Freizeitaktivitäten;
- Mit der Arbeitsunfähigkeit unvereinbare Arbeit außerhalb der Arbeitsstelle, zB in der eigenen Nebenerwerbslandwirtschaft oder beim Bau des eigenen Hauses.
Hat der Arbeitgeber Zweifel an der Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dann kann er gemäß § 275 Abs. 1 a SGB V den medizinischen Dienst einschalten.
Vorliegend hat die Beklagte den medizinischen Dienst nicht eingeschaltet, es gab aber auch im Übrigen keinen objektiven Anlass, an der Arbeitsunfähigkeit des Klägers zu zweifeln, denn der Vortrag des Klägers zur Krankheitsdauer, zu den Krankheitsursachen, zu den behandelnden Ärzten und zu den Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ist nachvollziehbar und widerspruchsfrei und die Beklagte, die die Darlegungs- und Beweislast für die Tatsachen trägt, die die Kündigung bedingen sollen, hat darüber hinaus keine weiteren Tatsachen zur Erschütterung des Beweiswertes vorgetragen.
Die Dauer der durch Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen belegten Krankheitsphase von September 2018 bis März 2019 ist entgegen der Auffassung der Beklagten kein Indiz für die Annahme einer nachhaltigen Arbeitsunlust des Arbeitnehmers, sondern ein Indiz für die Annahme einer ernsthaften Gesundheitsbeeinträchtigung.
Die Anzahl der diagnostizierenden und behandelnden Ärzte eignet sich ebenfalls nicht als Indiz für ein vertragswidriges Verhalten. Im hier fraglichen Zeitraum von 6 Monaten war der Kläger zunächst bei seinem Hausarzt, dem Zeugen N , in Behandlung. Die Beklagte hat nicht behauptet, dass es sich bei diesem Arzt um einen gemäß § 275 Abs. 1 a b) SGB V auffällig gewordenen Arzt handelte. Sodann hat sich der Kläger einmal in die Notaufnahme der RWTH begeben. So etwas geschieht bei akuten Beschwerden und es eignet sich nicht als Indiz für die Annahme einer Vertragspflichtverletzung gegenüber dem Arbeitgeber. Anschließend war der Kläger (mehr als 11 Wochen!) wegen seiner psychischen Probleme beim Facharzt für Psychiatrie, dem Zeugen S , sowie dessen Vertretern, den Zeugen Sa und H in Behandlung. Sich mit psychischen Problemen an eine Facharztpraxis zu wenden ist naheliegend. Damit erfüllt der Arbeitnehmer seine Pflicht gegenüber dem Arbeitgeber, den Genesungsprozess zu beschleunigen. Eine Pflichtverletzung ist dem gegenüber nicht ersichtlich. Das gleiche gilt für das Aufsuchen eines Facharztes für Orthopädie bei Knieproblemen, die sich an die Behandlung eines Hexenschuss durch den Hausarzt angeschlossen haben.
Die Anzahl der Erstbescheinigungen könnte zwar ein Indiz für die Unrichtigkeit einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sein, wenn der Arbeitnehmer häufig – ohne einen die Fachgebiete der Ärzte betreffenden Anlass – die behandelnden Praxen ändert. Hier hatte der Kläger aber wie gezeigt Anlass, die Facharztpraxen aufzusuchen und hier lagen unterschiedliche Krankheitsursachen vor: Akute Infektion, psychische Belastungsstörung, Hexenschuss, Knieschmerzen. Schon vom Ansatz her kann es keinen Kündigungsgrund darstellen, dass der behandelnde Arzt eine Erstbescheinigung ausgestellt. Dies mag durch eine tatsächlich neue und bislang nicht vorgelegene Erkrankung, vielleicht aber auch nur durch eine Nachlässigkeit motiviert gewesen sein. Letztlich ist es einem Patienten in aller Regel nicht möglich, die Art der Ausstellung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und deren Inhalt zu beeinflussen. Dass hier dem Kläger ausnahmsweise eine Einflussmöglichkeit zugekommen war oder er gerade die Ausstellung der konkreten Bescheinigung verlangt hätte und der Arzt dieser Bitte nachgekommen wäre, ist dem Sachvortrag der Beklagten nicht zu entnehmen (vgl. Landesarbeitsgericht München v. 07.02.2012 – 6 Sa 631/11 – Rn. 93). Die unrichtige Bescheinigung einer Ersterkrankung (Erstbescheinigung vom 02.01.2019) durch einen Arzt, bei dem der Kläger schon seit drei Wochen wegen der gleichen Krankheit in der Behandlung ist, mag eine Unregelmäßigkeit darstellen, die für den Arbeitgeber ein hinreichender Anlass für einen Antrag nach § 275 Abs. 1 a SGB V sein könnte. Tatsächlich hat die Krankenkasse des Klägers die Beklagte mit Schreiben vom 10.01.2019 auf die Fehlerhaftigkeit hingewiesen. Vor allem ist ein solcher Fehler aber ein Indiz für eine mangelhafte Organisation in der Praxis des Hausarztes – keinesfalls aber für die Annahme eines vertragswidrigen Verhaltens des Arbeitnehmers, wenn keine weiteren „verdächtigen“ Tatsachen hinzutreten. Gleiches gilt, wenn ein Hausarzt im Anschluss an eine vielwöchige Arbeitsunfähigkeit, die von einem Facharzt diagnostiziert worden war, eine Erstbescheinigung aufgrund einer neuen Diagnose ausstellt (hier am 06.03.2019), es sich die Angelegenheit aber rechtlich und ökonomisch – Neudiagnose oder nicht – um einen Fall der „Einheit des Verhinderungsfalles“ handelt.