Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Beschluss vom 13.12.2023 zum Aktenzeichen 6 B 13.23 entschieden, dass ein Prüfling eine Prüfung bestanden hat, wenn die Prüfungsbehörde nicht aufklären kann, wer die Prüfungen absolvierte.
Der Kläger begehrt die Aufhebung des Bescheids vom 16. September 2019, mit dem das Justizprüfungsamt des Beklagten die staatliche Pflichtfachprüfung wegen eines Täuschungsversuchs für nicht bestanden erklärt hat.
Der Kläger meldete sich im August 2018 zum Wiederholungsversuch, um die staatliche Pflichtfachprüfung abzulegen. Nachdem das Justizprüfungsamt Verdacht geschöpft hatte, dass der Zwillingsbruder des Klägers die im Rahmen der Prüfung geforderten sechs Klausuren angefertigt habe, beauftragte es den Schriftsachverständigen Dr. C. zur Abklärung. Dieser kam in seinem Gutachten vom 17. Mai 2019 durch Auswertung von Schriftproben des Klägers und dessen Zwillingsbruders zu dem Ergebnis, weder der Kläger noch dessen Zwillingsbruder habe die Klausuren geschrieben.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen, denn der Kläger habe die seiner Kennziffer zugeordneten Aufsichtsarbeiten nicht selbst verfasst. Die Kammer stütze ihre Überzeugung im Wesentlichen auf das für schlüssig und nachvollziehbar erachtete Gutachten vom 17. Mai 2019 und das Ergänzungsgutachten vom 4. Mai 2022.
Das Oberverwaltungsgericht hat das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und den angefochtenen Bescheid aufgehoben. Es hat seine Entscheidung darauf gestützt, dass ein Täuschungsversuch des Klägers i. S. v. § 22 Abs. 1 JAG NRW nicht erwiesen sei. Allein durch das von dem Beklagten eingeholte Sachverständigengutachten werde der Täuschungsversuch nicht überzeugend belegt; weitere erfolgversprechende Beweismittel stünden nicht (mehr) zur Verfügung. Das hieraus folgende „non liquet“ gehe zu Lasten des Beklagten. Das Ergebnis des Gutachtens, weder der Kläger noch sein Zwillingsbruder, sondern ein unbekannter Dritter habe die Aufsichtsarbeiten verfasst, vermöge nicht zu überzeugen. Es könne nicht anhand eines plausibel erscheinenden Geschehensablaufes nachvollzogen werden. Denn die Identität der Prüflinge sei von Mitarbeitern des Beklagten an jedem Klausurtag anhand der Ladung und eines Ausweisdokuments überprüft worden. Es bestünden auch keine anderen belastbaren Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger an den Klausurtagen nicht persönlich anwesend gewesen sei und die Aufsichtsarbeiten nicht selbst verfasst hätte. Weitere erfolgversprechende Aufklärungsmöglichkeiten bestünden gegenwärtig nicht mehr. Die Überlegung des Verwaltungsgerichts, der Kläger könne seine Aufsichtsarbeiten mit einem Mitprüfling ausgetauscht haben, könne ebenfalls nicht überzeugen.
Das Berufungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Dagegen wendet sich der Beklagte mit der Beschwerde, der der Kläger entgegentritt.
Der Beklagte rügt, das Berufungsgericht habe gegen seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts verstoßen. Es habe weder zu dem Geschehensablauf noch zu der Identität des unbekannten Dritten eigene Ermittlungen angestrengt, sondern die tatsächlich gegebenen weiteren Aufklärungsmöglichkeiten außer Acht gelassen (z. B. Einvernahme des bei den Klausurterminen eingesetzten Aufsichtspersonals). Insoweit liege zudem eine unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung vor. Denn das Berufungsgericht habe in der Verhandlung keine weiteren erfolgversprechenden Aufklärungsmöglichkeiten gesehen und diese Annahme auch in den Gründen der angefochtenen Entscheidung wiederholt. Der Beklagte habe auch auf die gebotene Sachaufklärung hingewirkt, da er bereits im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht mit Schriftsätzen vom 28. Februar und 14. März 2022 ausdrücklich den Erlass eines Beweisbeschlusses angeregt habe. Dieses Vorbringen verfehlt die an die Darlegung eines gerichtlichen Aufklärungsmangels zu stellenden Anforderungen.
Zwar verletzt ein Tatsachengericht seine Pflicht zur erschöpfenden Sachverhaltsaufklärung aus § 86 Abs. 1 VwGO, wenn es versäumt, hinreichend konkreten Einwänden eines Beteiligten nachzugehen und den Sachverhalt weiter aufzuklären, sofern dies für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich ist. Das Absehen von einer gebotenen Sachaufklärung mit der Begründung, etwa in Betracht kommende Beweismittel würden voraussichtlich nicht den gewünschten Aufschluss erbringen, stellt eine unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung und damit eine Verletzung der in § 86 Abs. 1 VwGO geregelten Verpflichtung des Gerichts dar, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen.
Im vorliegenden Fall hat die Beschwerde aber nicht dargelegt, dass die Beklagtenvertreterin in der Berufungsverhandlung konkrete Einwände gegen die vom Berufungsgericht in den Raum gestellte Beweiswürdigung erhoben habe. Damit genügt der Beklagte nicht den Darlegungsanforderungen an einen Aufklärungsmangel. Denn die Geltendmachung eines Verstoßes gegen § 86 Abs. 1 VwGO verlangt nicht nur die schlüssige Darlegung, welche Aufklärungsmaßnahmen das Gericht hätte ergreifen müssen, welche Feststellungen es dabei voraussichtlich getroffen hätte und inwiefern dies zu einer für den Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung hätte führen können. Vielmehr muss der Beschwerdeführer zudem darlegen, dass er in der Berufungsverhandlung durch Stellung eines Beweisantrags auf eine bestimmte Sachaufklärung hingewirkt hat oder aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen aufgrund von dessen materiell-rechtlicher Rechtsauffassung auch ohne ein solches Hinwirken hätten aufdrängen müssen. Denn die Aufklärungsrüge stellt kein Mittel dar, um Versäumnisse in der Tatsacheninstanz zu kompensieren, vor allem wenn der Beschwerdeführer es unterlassen hat, einen Beweisantrag zu stellen.
Demnach hätte die Vertreterin des Beklagten in der Berufungsverhandlung entsprechende Beweisanträge stellen, also z. B. die Einvernahme des bei den Klausurterminen eingesetzten Aufsichtspersonals beantragen müssen. Das hat sie ausweislich des Protokolls der Berufungsverhandlung nicht getan. Seiner prozessrechtlichen Obliegenheit, auf eine entsprechende Sachverhaltsaufklärung gegenüber dem Berufungsgericht hinzuwirken, hat der Beklagte auch nicht durch seine Beweisanregungen in den Schriftsätzen vom 28. Februar und 14. März 2022 genügt. Denn eine schriftsätzlich – zudem gegenüber dem Verwaltungsgericht in einem anderen Kontext (Streit über die Pflicht eines Beteiligten zur Gutachtenergänzung oder gerichtliche Verpflichtung zur Einholung eines Sachverständigengutachtens) – abgegebene Beweisanregung ist gerade kein Ersatz für einen in der Berufungsverhandlung förmlich gestellten Beweisantrag (§ 86 Abs. 2 VwGO i. V. m. § 244 Abs. 3 S. 1 StPO). Anhaltspunkte, aufgrund derer sich dem Oberverwaltungsgericht weitere Ermittlungen auch ohne die Stellung eines entsprechenden Beweisantrags hätten aufdrängen müssen, werden weder von der Beschwerde benannt noch sind sie ersichtlich. Auch mit Blick auf die angebrachte Gehörsrüge hätte es dem Beklagten zur Abwendung einer Gehörsverletzung oblegen, in der Berufungsverhandlung auf eine entsprechende Beweisaufnahme hinzuwirken.
Die Beschwerde macht geltend, das Berufungsgericht habe gegen die ihm obliegende Hinweispflicht verstoßen. Es habe dem Beklagten nicht die gemäß § 86 Abs. 3 VwGO gebotenen Hinweise erteilt, bevor es die angegriffene Überraschungsentscheidung erlassen habe. Nach dem Prozessverlauf habe der Beklagte nicht damit zu rechnen brauchen, dass das von ihm eingeholte Gutachten zum Beweis des Täuschungsversuchs nicht genüge. Völlig überraschend habe das Oberverwaltungsgericht erst in der Berufungsverhandlung ausgeführt, das Gutachten reiche dem Gericht nicht aus und weitere Beweismittel stünden nicht (mehr) zur Verfügung. Dem Beklagten hätte die Möglichkeit zur Stellungnahme binnen angemessener Frist eingeräumt werden müssen. Dieses Vorbringen führt nicht auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs.
Voraussetzung für eine erfolgreiche Gehörsrüge ist die Darlegung des Beschwerdeführers, dass er alles ihm in der konkreten prozessualen Situation Mögliche und Zumutbare unternommen habe, sich rechtzeitig rechtliches Gehör zu verschaffen und einen drohenden Gehörsverstoß abzuwenden. Daran fehlt es. Denn ein Gericht ist nicht verpflichtet, seine endgültig erst aufgrund der Schlussberatung zu treffende Beweiswürdigung den Beteiligten bereits vor der mündlichen Verhandlung zu offenbaren. Wenn der Beklagte rügt, dass er von der in der Berufungsverhandlung seitens des Gerichts angedeuteten Beweiswürdigung überrascht worden sei und darauf nicht angemessen habe reagieren können, hätte er Vertagung oder einen Schriftsatznachlass beantragen müssen. Das hat die Vertreterin des Beklagten nicht getan. Damit hat der Beklagte seine prozessuale Mitwirkungsobliegenheit zur Abwendung eines drohenden Gehörverstoßes missachtet.
Ferner trägt die Beschwerde vor, das Berufungsgericht habe den Grundsatz der freien Beweiswürdigung verletzt. Seine Sachverhaltswürdigung sei aktenwidrig und verstoße gegen Denk- und Naturgesetze. Nach dem sowohl vom erstinstanzlichen als auch vom Berufungsgericht als inhaltlich zutreffend bewerteten Sachverständigengutachten stehe zweifelsfrei fest, dass der Kläger die Klausuren nicht selbst angefertigt habe. Wenn das Oberverwaltungsgericht nunmehr zu dem Ergebnis komme, ein Täuschungsversuch habe nicht vorgelegen, widerspreche es seinen eigenen Feststellungen. Dieses Vorbringen lässt keine Verletzung des § 108 Abs. 1 S. 1 VwGO erkennen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist es in der prozessrechtlich zwischen Tatsachengericht und Revisionsinstanz vorgesehenen Kompetenzverteilung Sache des Tatrichters, sich im Wege der freien Beweiswürdigung die Überzeugung von dem entscheidungserheblichen Sachverhalt zu bilden. Der in § 108 Abs. 1 S. 1 VwGO niedergelegte Grundsatz der freien Beweiswürdigung eröffnet ihm dafür einen Wertungsrahmen. Die tatrichterliche Beweiswürdigung ist von dem Bundesverwaltungsgericht nicht daraufhin nachzuprüfen, ob die Gewichtung einzelner Umstände und deren Gesamtwürdigung überzeugend erscheinen. Sie wird dementsprechend nicht schon dadurch in Frage gestellt, dass ein Beteiligter aus dem vorliegenden Tatsachenmaterial andere Schlüsse ziehen will als die Tatsacheninstanz. Ein nach § 108 Abs. 1 S. 1 VwGO beachtlicher Verfahrensmangel bei der Beweiswürdigung liegt nur dann vor, wenn der gerügte Fehler sich hinreichend deutlich von der materiell-rechtlichen Subsumtion, das heißt der korrekten Anwendung des sachlichen Rechts abgrenzen lässt und der Tatrichter den ihm bei der Tatsachenfeststellung durch den Grundsatz freier Beweiswürdigung eröffneten Wertungsrahmen verlassen hat. Eine Überschreitung dieses Wertungsrahmens kann etwa in einer Nichtbeachtung der Denkgesetze, gesetzlicher Beweisregeln oder allgemeiner Erfahrungssätze sowie in einer objektiv willkürlichen oder aktenwidrigen Sachverhaltswürdigung bestehen. Dafür gibt das Beschwerdevorbringen keinen Anhalt.
Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass es das Ergebnis eines von einem Beteiligten eingeholten Sachverständigengutachtens nicht ungeprüft übernehmen darf. Vielmehr genügt es seiner sich aus § 108 Abs. 1 S. 1 VwGO ergebenden tatrichterlichen Pflicht zur Verarbeitung des Prozessstoffs nur, wenn es in eigener Verantwortung prüft, ob es das Ergebnis des Gutachtens für richtig hält. Denn der Grundsatz der freien Beweiswürdigung enthält keine generellen Maßstäbe für den Aussage- und Beweiswert einzelner Beweismittel, Erklärungen und Indizien. Vielmehr muss der Tatrichter Bedeutung und Gewicht der verschiedenen Bestandteile des Prozessstoffes nach der inneren Überzeugungskraft der Gesamtheit der in Betracht kommenden Erwägungen bestimmen.
Die Beschwerde verschließt sich der Einsicht, dass das Berufungsgericht das vom Beklagten vorprozessual eingeholte Sachverständigengutachten gerade nicht als inhaltlich zutreffend bewertet hat. Es hat dessen auf graphologischen Erwägungen beruhendes Resultat, ein unbekannter Dritter habe die Aufsichtsarbeiten verfasst, mit Blick auf den Ablauf der Prüfung und die Personenkontrollen an den Prüfungstagen als nicht überzeugend angesehen. Diese Beweiswürdigung hält sich in dem durch § 108 Abs. 1 S. 1 VwGO vorgegebenen Wertungsrahmen, so dass die Rügen aktenwidriger und paradoxer Tatsachenfeststellung ins Leere gehen.
Schließlich moniert die Beschwerde, die vom Berufungsgericht an die Voraussetzungen einer Täuschung i. S. v. § 22 Abs. 1 JAG NRW gestellten materiellen Voraussetzungen seien überzogen und verfehlt. Damit wird jedoch kein Verfahrensmangel, sondern ein Verstoß gegen nicht-revisibles materielles Recht gerügt. Damit kann die Beschwerde die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO nicht erreichen.