Das Bundessozialgericht hat am 15.12.2020 zum Aktenzeichen B 2 U 4/20 R entschieden, dass der tödliche Sturz eines Vorstandsmitglieds vom Dach keinen Arbeitsunfall darstellt.
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen. Die Klägerin zu 1. ist die Witwe und die Klägerinnen zu 2. sowie 3. sind die Kinder des am 24.09.2015 tödlich Verunglückten. Dieser war zunächst auf Grundlage eines Arbeitsvertrages als kaufmännischer Leiter der T. AG beschäftigt. Deren Vorstandsvorsitzender war der Firmengründer P., der zusammen mit seiner Familie 100% der Aktienanteile hält. Zum 01.04.2013 bestellte der Aufsichtsrat den Verunglückten zum Mitglied des dreiköpfigen Vorstands. Die T. AG und der Verunglückte schlossen einen Dienstvertrag, der u.a. die Aufgaben und Pflichten des Verunglückten als Vorstandsmitglied regelte. Der Verunglückte versicherte sich nicht freiwillig in der gesetzlichen Unfallversicherung. Am 24.09.2015 stieg er auf das Dach des Firmengebäudes, um Schäden zu dokumentieren. Hierbei stürzte er in die Tiefe und erlitt tödliche Verletzungen.
Die Beklagte lehnte die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen ab, weil der Verstorbene nicht Beschäftigter i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII gewesen sei.
Das Sozialgericht hatte die Klagen abgewiesen, das Landessozialgericht die Berufungen zurückgewiesen. Ein Anspruch auf Hinterbliebenenleistungen bestehe nicht, weil der Verunglückte nicht in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert gewesen sei. Nach der Rechtsprechung des BSG seien Vorstandsmitglieder einer AG generell von der Versicherungspflicht nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII ausgenommen. Der Gesetzgeber habe im Wege der Typisierung eine Versicherungspflicht in der gesetzlichen Unfallversicherung für alle Vorstandsmitglieder ausgeschlossen, so dass es auf die konkrete Ausgestaltung des Dienstverhältnisses im Einzelfall nicht ankomme. Die Gesichtspunkte, die für eine regelhafte Selbstständigkeit der Vorstandsmitglieder einer AG sprächen, seien weiterhin gültig, weshalb eine Abweichung von der Rechtsprechung des BSG nicht angezeigt sei. Der wesentliche Unterschied zu Geschäftsführern einer GmbH liege u.a. darin, dass die Gesellschafter einer GmbH ihrem Fremdgeschäftsführer jederzeit unmittelbar Weisungen durch einen Beschluss erteilen könnten. Auch eine Versicherung als Wie-Beschäftigter nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII komme nicht in Betracht. Wer wie ein Unternehmer selbstständig tätig sei, könne nicht zugleich Wie-Beschäftigter sein. Die Versicherung nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII scheide aus, weil § 52 Abs. 1d der Satzung der Beklagten keine Vorstandsmitglieder erfasse. Mit ihren Revisionen rügten die Klägerinnen u.a. eine Verletzung der §§ 2, 3 SGB VII.
Die Revisionen der Klägerinnen hatten vor dem BSG keinen Erfolg.
Nach Auffassung des BSG haben die Vorinstanzen zu Recht entschieden, dass die Klägerinnen keinen Anspruch auf Hinterbliebenenleistungen nach §§ 63 ff. SGB VII haben. Der verstorbene Ehemann und Vater der Klägerinnen habe keinen versicherten Arbeitsunfall gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII erlitten, als er bei der Dokumentation von Schäden vom Dach des Gebäudes der T.-AG gestürzt sei. Die von dem Verunglückten zum Zeitpunkt des Unfalls ausgeübte Tätigkeit als Vorstandsmitglied der T.-AG sei schon dem Grunde nach nicht in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert gewesen. Der Verunglückte sei bei der zum Unfall führenden Verrichtung nicht als Beschäftigter i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII tätig gewesen.
Beschäftigung sei nichtselbstständige Arbeit (§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV). Anhaltspunkte für eine Beschäftigung seien eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers (§ 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV). Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft (AG) verrichten in dieser Funktion keine nichtselbstständige Arbeit. Der Regelung des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VII, wonach sich Personen, die in Kapitalgesellschaften regelmäßig wie Unternehmer selbstständig tätig seien, freiwillig in der gesetzlichen Unfallversicherung versichern könnten, lasse sich typisierend entnehmen, dass Vorstandsmitglieder einer unabhängigen, nicht beherrschten AG (§§ 17 f., 291 Abs. 1 Satz 1 AktG) keinesfalls als Beschäftigte i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII kraft Gesetzes versichert sein können.
Insoweit bestätigt und präzisiert das BSG seine bisherige Rechtsprechung (vgl. BSG, Urt. v. 14.12.1999 – B 2 U 38/98 R – BSGE 85, 214 und BSG, Urt. v. 20.03.2018 – B 2 U 13/16 R – BSGE 125, 219). Mitglieder des Vorstandes einer AG werden in der Regel wie Unternehmer tätig. Dies ergebe sich aus der gesetzlichen Ausgestaltung ihrer Tätigkeit und Position innerhalb der AG, die grundsätzlich zwingend sei (§ 23 Abs 5 AktG). Das Aktiengesetz weise allen Mitgliedern des Vorstandes als Kollegialorgan die Aufgabe und die Pflicht zu, die AG unter eigener Verantwortung zu leiten (§ 76 Abs. 1 AktG). Dies beinhalte die Kernaufgaben eines Unternehmers wie Festlegung der Leitlinien der Geschäftspolitik, Ausübung von Personal- und Finanzverantwortung sowie die Repräsentation des Unternehmens nach innen und außen. Sämtliche Vorstandsmitglieder seien nur gemeinschaftlich zur Geschäftsführung befugt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AktG). In einer unabhängigen, nicht beherrschten AG übten sie die Leitung und ihr Vorstandsmandat weisungsfrei und eigenverantwortlich aus. Weder die Hauptversammlung noch der Aufsichtsrat könnten den Vorstandsmitgliedern Weisungen erteilen. Hierin bestehe auch ein entscheidender struktureller Unterschied zur GmbH, in der der Geschäftsführer gegenüber der Gesellschafterversammlung als Leitungsorgan weisungsgebunden sei, weshalb eine Übertragung der Grundsätze der Rechtsprechung des BSG zum sozialversicherungsrechtlichen Status von GmbH-Geschäftsführern nicht möglich sei. Ebenso wenig seien die Grundsätze des EuGH zum europarechtlichen Arbeitnehmerbegriff heranzuziehen, da weder § 7 SGB IV noch § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII auf unionsrechtlichen Vorgaben beruhen.
Der Verunglückte sei bei der unfallbringenden Verrichtung auf dem Dach auch nicht als Wie-Beschäftigter der T.-AG i.S.d. § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII tätig gewesen. Voraussetzung einer Wie-Beschäftigung sei, dass eine einem fremden Unternehmen dienende, dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers entsprechende Tätigkeit von wirtschaftlichen Wert erbracht werde, die ihrer Art nach von Personen verrichtet werden könnte, die in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis stehen. Die T.-AG, für die der Verunglückte die Schäden auf dem Dach dokumentiert habe, sei aber für diesen kein fremdes Unternehmen gewesen, sondern dasjenige, für das er als Teil eines Organs unternehmer- und gerade nicht beschäftigtenähnlich tätig gewesen sei.
Weiterhin habe bei dem Verunglückten zum Zeitpunkt des Unfalls auch keine Versicherung kraft Satzung bestanden (§ 3 Abs 1 Nr 2 SGB VII). Der Verunglückte gehörte als Mitglied eines Leitungsorgans keinem der in § 52 Abs 1 Buchst d) der Satzung der Beklagten genannten Gremien an, die Überwachungsfunktion haben. Schließlich sei der Verunglückte nach den bindenden Feststellungen des Landessozialgerichts auch nicht freiwillig bei der Beklagten versichert gewesen.