Der Staatsgerichtshof des Landes Hessen in Wiesbaden hat am 11.01.2021 zum Aktenzeichen P.St. 2733, P.St. 2738 entschieden, dass die Wahl zum Hessischen Landtag vom 28.10.2018 gültig ist.
Aus der Pressemitteilung des StGH Hessen Nr. 2/2021 vom 11.01.2021 ergibt sich:
Der Staatsgerichtshof hat die Wahlprüfungsbeschwerden der AfD-Fraktion im Hessischen Landtag und eines Wahlberechtigten, dessen Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl vor dem Wahlprüfungsgericht beim Hessischen Landtag erfolglos geblieben war, zurückgewiesen.
Die Wahlprüfungsbeschwerden richteten sich gegen den Beschluss des Wahlprüfungsgerichts vom 18.12.2019, das die Landtagswahl 2018 für gültig erklärt hatte. Beide Antragsteller rügten, das Ergebnis der Wahl sei unrichtig festgestellt worden, da sich die Gesamtzahl der Abgeordnetensitze des Landtags nicht auf 137, sondern auf 138 Mandate belaufen müsse. Das zusätzliche Mandat entfalle auf die AfD-Fraktion. Hintergrund dieses Vorbringens war, dass die CDU in den Wahlkreisen 40 Abgeordnetenmandate direkt gewonnen hatte, während ihr nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gemäß ihrem Landesstimmenergebnis lediglich 32 Sitze zustanden. Hieraus ergaben sich für die CDU acht sog. Überhangmandate mit der Folge, dass sich die in § 1 Abs. 1 des Landtagswahlgesetzes (LWG) vorgesehene Gesamtzahl von 110 Abgeordnetensitzen gemäß § 10 Abs. 5 LWG um diese acht Mandate sowie um weitere Ausgleichsmandate erhöhen musste, die den übrigen Parteien zustehen. Die genannte Vorschrift hat folgenden Wortlaut: „In den Wahlkreisen errungene Sitze verbleiben der Partei oder Wählergruppe auch dann, wenn sie die nach Abs. 3 ermittelte Zahl übersteigen. In diesem Fall erhöht sich die Gesamtzahl der Abgeordnetensitze (§ 1 Abs. 1) so lange, bis die nach Abs. 3 zu berechnende Proportion erreicht ist.“ Der Landeswahlausschuss hat zur Berechnung der Ausgleichsmandate die Gesamtsitzzahl des Landtages schrittweise so lange um jeweils ein Mandat erhöht, bis der CDU unter Anwendung des in § 10 Abs. 3 LWG geregelten Sitzzuteilungsverfahrens nach Hare/Niemeyer die 40 Mandate auch auf Grundlage ihres Landesstimmenergebnisses zugeteilt werden konnten. Dies war erstmals bei 137 Gesamtsitzen der Fall. Jedoch hätte die CDU die ihr zustehenden 40 Mandate auch bei 138, 139 und 140 Gesamtsitzen erhalten. Ohne den Anfall von Überhangmandaten wären auf die Fraktionen CDU und Bündnis 90/Die Grünen im Landtag mit der gesetzlichen Regelgröße von 110 Abgeordneten zusammen 55 Mandate entfallen, ebenso viele auf die übrigen Fraktionen. Die derzeitige Landesregierung hätte somit über keine parlamentarische Mehrheit verfügt. Bei der Gesamtsitzzahl von 137, die der Landeswahlausschuss als Folge der Überhang- und Ausgleichsmandate ermittelt hat, verfügen die Fraktionen CDU und Bündnis 90/Die Grünen nunmehr mit zusammen 69 Mandaten über eine Ein-Stimmen-Mehrheit im Landtag. Diese Mehrheit wäre nicht mehr gegeben, sofern sich die Gesamtsitzzahl auf 138 beliefe, da in diesem Fall das zusätzliche Mandat der AfD-Fraktion zustünde.
Die AfD-Fraktion vertrat die Auffassung, das angewandte Verfahren zur Berechnung der Ausgleichsmandate entspreche nicht den gesetzlichen Vorgaben, führe zu einer ungerechtfertigten Bevorzugung derjenigen Partei, die die Überhangmandate errungen habe, und wahre nicht das sich aus dem Grundsatz der Wahlgleichheit ergebende Gebot der Erfolgschancengleichheit der Stimmen. Die unverzerrteste Ermittlung der Gesamtgröße des Parlaments im Fall von Überhangmandaten sah sie in einer von ihr näher beschriebenen Dreisatzrechnung, die zu einer Gesamtzahl von 138 Abgeordneten geführt hätte. Auch der andere Antragsteller griff das vom Landeswahlausschuss angewandte und vom Wahlprüfungsgericht gebilligte Berechnungsverfahren an. Er machte u.a. geltend, dass die Erhöhung der Gesamtsitzzahl des Landtags als Folge der Überhang- und Ausgleichsmandate nicht zu einer Veränderung der politischen Mehrheitsverhältnisse führen dürfe, die ohne die zusätzlichen Mandate auf der Grundlage des Landesstimmenergebnisses in einem Landtag mit der gesetzlichen Regelgröße bestünden.
Der StGH Wiesbaden hat die Wahlprüfungsbeschwerde des weiteren Antragstellers als unzulässig angesehen, soweit diese auf angebliche Wahlfehler gestützt worden war, die mit der Berechnung der Ausgleichsmandate nicht im Zusammenhang standen. Seine diesbezüglichen Rügen hatte der Antragsteller schon gegenüber dem Wahlprüfungsgericht nicht hinreichend begründet, was zu ihrer Unzulässigkeit auch im Verfahren der Wahlprüfungsbeschwerde vor dem Staatsgerichtshof führte.
Im Übrigen erachtete der Staatsgerichtshof beide Wahlprüfungsbeschwerden als unbegründet. Die durch den Landeswahlausschuss ermittelte Gesamtsitzzahl des Landtags von 137 Abgeordneten sei im Ergebnis nicht zu beanstanden, sodass die hiergegen gerichteten Beschwerden erfolglos bleiben mussten.
Die Auffassung der Antragsteller, im Falle von Überhangmandaten solle durch die Erhöhung der Gesamtzahl der Abgeordnetensitze diejenige Sitzproportion angestrebt werden, die sich ausgehend von den Landesstimmenergebnissen der einzelnen Parteien bei einem Landtag mit insgesamt 110 Sitzen ergeben würde, bewertete der Staatsgerichtshof als schon mit dem Wortlaut des § 10 Abs. 5 Satz 2 LWG unvereinbar. Gleiches gelte für die Annahme, die Gesamtsitzzahl des um die Überhang- und die Ausgleichsmandate vergrößerten Landtags müsse im Wege einer Dreisatzrechnung ermittelt werden. Auch komme es nicht auf die parlamentarisch-politischen Mehrheiten an, die nach dem Landesstimmenergebnis in einem Landtag mit der Größe von 110 Abgeordneten bestünden, sondern ausschließlich auf die rechtlichen Vorgaben im Landtagswahlgesetz, aus denen sich ein bestimmtes mathematisches Verfahren ergebe. Die politische Mehrheitsbildung im Parlament sei hingegen von Einflüssen abhängig, die außerhalb des Wahlrechts lägen und die sich zudem im Laufe der Wahlperiode jederzeit ändern könnten.
Der Staatsgerichtshof führte in seiner Entscheidung weiter aus, dass die maßgebliche Regelung des § 10 Abs. 5 Satz 2 LWG ausgelegt werden müsse. Das vom Landeswahlausschuss angewandte Berechnungsverfahren stehe zwar mit dem Wortlaut der Norm in Einklang, jedoch folge aus der Entstehungsgeschichte und dem Sinn und Zweck der Vorschrift, dass durch die Erhöhung der Abgeordnetensitze eine Sitzverteilung erreicht werden müsse, die den jeweiligen Anteilen der in den Landtag eingezogenen Parteien an den insgesamt zu berücksichtigenden Landesstimmen bestmöglich entspreche und somit die bei jeder Sitzzuteilung unvermeidbare Beeinträchtigung der aus dem Grundsatz der Wahlgleichheit abgeleiteten Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen so gering wie möglich halte. Dieser Vorgabe hätten der Landeswahlausschuss und ihm folgend das Wahlprüfungsgericht nicht vollständig entsprochen, weil sie die Erhöhung der Gesamtsitzzahl des Landtags in dem Moment hätten enden lassen, in dem der CDU das 40. Mandat auch auf Grundlage ihres Landesstimmenergebnisses zugestanden habe. Erforderlich sei jedoch auf der letzten Stufe des Sitzzuteilungsverfahrens eine Vergleichsbetrachtung zwischen den verschiedenen Gesamtsitzzahlen gewesen, die gleichermaßen zu 40 Mandaten der CDU geführt hätten, somit zwischen den Zahlen 137, 138, 139 und 140. Die Erhöhung der Gesamtzahl der Abgeordnetensitze müsse bis zu derjenigen Zahl vorgenommen werden, bei der die Summe der Abweichungen zwischen den tatsächlichen Sitzanteilen der Parteien und ihren jeweiligen Anteilen an den zu berücksichtigenden Landesstimmen so klein wie möglich sei. Darin, dass diese Vergleichsbetrachtung unterblieben ist, sah der StGH Wiesbaden eine Unregelmäßigkeit im Wahlverfahren.
Allerdings hat sich diese Unregelmäßigkeit nicht auf die Mandatsverteilung im Landtag ausgewirkt, weshalb sie keinen Wahlfehler im Sinne von Art. 78 Abs. 2 der Hessischen Verfassung begründet. Denn die Summe der genannten Abweichungen beträgt bei 137 Gesamtsitzen lediglich 0,7395 Prozentpunkte, während sie sich bei 138 Abgeordneten auf 1,1607 Prozentpunkte, bei 139 Abgeordneten auf 1,4703 Prozentpunkte und bei 140 Abgeordneten auf 1,4617 Prozentpunkte beläuft.
Der notwendige Vergleich der in Betracht kommenden Gesamtsitzzahlen führt somit ebenfalls zu 137 Gesamtsitzen, weshalb die vom Landeswahlausschuss festgestellte Größe des Landtags im Ergebnis zutreffend ist.