Das Landesarbeitsgericht Köln hat mit Urteil vom 23.08.2024 zum Aktenzeichen 6 Sa 663/23 entschieden, dass dann, wenn die Arbeitgeberin den Arbeitnehmer auf der Grundlage von über 2.300 geleisteten Mehrarbeitsstunden im Einvernehmen mit dem Arbeitnehmer für mehrere Monate freistellt, sie in diesen Monaten das Entgelt nach dem Lohnausfallprinzip zu zahlen hat, also das Entgelt, das zu zahlen gewesen wäre, wenn der Arbeitnehmer in diesen Monaten gearbeitet hätte. Nichts anderes ergibt sich, wenn die unstreitige Mehrarbeit vor 20 Jahren geleistet worden war, also in einem Zeitraum, für den die Parteien ein viel geringeres Bruttomonatsentgelt vereinbart hatten.
Die Parteien streiten über die Höhe der zu zahlenden Vergütung für die Zeit einer Freistellung des Klägers ab dem Monat Dezember des Jahres 2022, die zur Abgeltung der bis zum Jahre 2004 geleisteten Überstunden erfolgt ist. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob die Beklagte dem Kläger während der Freistellung das aktuelle Bruttoentgelt zu zahlen hat oder das Entgelt aus dem Jahre 2004. Darüber hinaus streiten die Parteien um die Jahresleistung und die Weihnachtsgratifikation für die Jahre 2022 und 2023.
Der am 1962 geborene Kläger ist seit dem 03.07.1989 bei der Beklagten zunächst als „technischer Angestellter“ und später als „Bereichsleiter Projektabteilung“ beschäftigt. Hierfür erhielt er zuletzt vereinbarungsgemäß ein Bruttomonatsentgelt in Höhe von 6.164,00 EUR brutto. In diesem Betrag ist eine Anwesenheitsprämie in Höhe von 164,00 EUR enthalten, die in Monaten zu zahlen ist, in denen keine Arbeitsunfähigkeit vorgelegen hat. Der Arbeitsvertrag nimmt Bezug auf die „Betriebs- und Arbeitsordnung P“ in der jeweils gültigen Fassung. In Nummer 9 des Arbeitsvertrages heißt es wörtlich:
Darüber hinaus erhält der Mitarbeiter eine Jahresleistung sowie eine Weihnachtsgratifikation gemäß der Regelung im Anhang zur Betriebs- und Arbeitsordnung-P in der jeweils gültigen Fassung.
Seit dem Beginn des Arbeitsverhältnisses bis zum 30.06.2004 leistete der Kläger 2.330 Überstunden. Bei der vertraglich vereinbarten Arbeitspflicht von 40 Stunden pro Woche entspricht dies einem Zeitraum von gut 58 Wochen, also mehr als einem Jahr. Unter dem 08./12.07.2004 vereinbarten die Parteien mit Wirkung vom 01.07.2004 ein um 600,00 EUR erhöhtes Bruttomonatsgehalt in Höhe von dann 4.352,00 EUR. Des Weiteren vereinbarten die Parteien das Folgende:
„Mit diesem Gehalt ist evtl. Mehrarbeit abgegolten, d.h. ab Monatsende Juli werden evtl. Mehr- oder Minderstunden gestrichen bzw. künftig keine Sollvorgabe mehr erfasst. Ihr Guthaben per 30.06.2004 bleibt von dieser Regelung unberührt. Über deren Verwendung wollen wir in den nächsten Monaten eine Vereinbarung treffen.“
Seit dem 01.07.2004 bis ins Jahr 2021 führten die Parteien das Arbeitsverhältnis dementsprechend ohne die Führung eines Arbeitszeitskontos fort. Das monatliche Bruttoentgelt stieg in dieser Zeit sukzessive weiter auf den zuletzt gezahlten Betrag in Höhe von 6.164,00 EUR brutto. Eine schriftliche Vereinbarung zu den zuvor auf dem Arbeitszeitkonto angesammelten Überstunden trafen die Parteien nicht. Ob der Kläger während der besagten 17 Jahre das Stundenguthaben gegenüber der Beklagten angesprochen hat, ist zwischen den Parteien streitig und betraf allenfalls wenige Wochen. Unstreitig trat der Kläger im Jahre 2021 an die Beklagte heran mit der Bitte, nunmehr unter Anrechnung noch offener Urlaubs- und Überstundenansprüche freigestellt zu werden und eventuell danach nicht mehr arbeiten zu wollen. Die Beklagte bot dem Kläger zwei Aufhebungsvereinbarungen an, die der Kläger beide nicht annahm. Der Kläger wurde von der Beklagten alsdann zunächst bis zum 13.11.2022 unter Anrechnung auf Urlaubsansprüche unter Fortzahlung der Vergütung von 6.164,00 € brutto freigestellt. Ab dem 14.11.2022 bis über den Tag der Kammerverhandlung erster Instanz am 25.10.2023 hinaus geschah dies unter Anrechnung auf Überstunden. Ab dem 07.12.2023 bis einschließlich den 29.12.2023 wurde dem Kläger Urlaub aus dem Jahr 2023 gewährt. Seit dem 02.01.2024 wird der Kläger wieder von der Beklagten beschäftigt, wobei zwischen den Parteien streitig ist, ob dies vertragsgemäß geschieht. Die Beklagte zahlte während der Freistellungszeit monatlich eine Vergütung in Höhe von 3.752,37 EUR brutto. Dieser Betrag entspricht der vereinbarten Vergütung für die Zeit bis zum 30.06.2004 ohne die damals vereinbarten zusätzlichen 600,00 EUR Überstundenabgeltung. Dieser gezahlte Betrag ist also um 2.411,63 EUR geringer als das zuletzt vereinbarungsmäßig gezahlte Bruttoentgelt. Die so in den Monaten Dezember 2022 bis Dezember 2023 entstehenden Differenzen sind Gegenstand der zuletzt vor der Berufungskammer gestellten Anträge zu 1 bis 13.
Mit der seit dem 21.03.2022 beim Arbeitsgericht Köln anhängigen und mehrfach erweiterten und konkretisierten Klage hat der Kläger die Abwicklung des nach seiner Auffassung bestehenden Freistellungsanspruchs auf der Grundlage eines Bruttomonatsentgelts in Höhe vom 6.164,00 EUR begehrt, sowie die von der Beklagten nichtgeleisteten Gratifikationen (Jahresleistung und Weihnachtsgeld), wie sie sich aus der Betriebsordnung ergeben und wie sie in den letzten Jahren gezahlt worden waren.
Dem Kläger stehen die von ihm geltend gemachten Restentgelte in Höhe von jeweils 2.411,63 EUR für die Monate Dezember 2022 bis Oktober 2023 zu. Gleiches gilt für das Entgelt in Höhe von 6.140,00 EUR für den Monat November 2023 sowie für die Urlaubsvergütung in Höhe von ebenfalls 6.164,00 EUR für den Monat Dezember (1.). Auch die geltend gemachten Ansprüche auf Zahlung der Jahresleistung und des Weihnachtsgeldes für die Jahre 2022 und 2023 stehen dem Kläger zu (2.).
Der Kläger hat gegen die Beklagte ein Anspruch auf Zahlung der von ihm geforderten Restentgelte für die Monate Dezember 2022 bis Oktober 2023 in Höhe von jeweils 2.411,63 EUR, denn der Berechnung ist das aktuelle Bruttomonatsentgelt in Höhe von 6.164,00 EUR einschließlich der Anwesenheitsprämie zugrunde zu legen (a.). Aus dem gleichen Grund kann der Kläger von der Beklagten den besagten Betrag in voller Höhe für den Monat November 2023 verlangen (b.). In der gleichen Höhe steht dem Kläger für Monat Dezember 2023 ein Urlaubsentgelt zu (c.). Mit Blick auf alle vorgenannten Ansprüche kann der Kläger die Leistung von Prozesszinsen verlangen (d.). Die Ansprüche sind weder verfallen noch verwirkt noch verjährt (e).
Die Klage ist begründet.
Der Zahlungsanspruch ergibt sich nicht bereits aus § 611 a Abs. 2 BGB in Verbindung mit dem Arbeitsvertrag. Denn während der hier fraglichen Monate hat der Kläger keine Arbeitsleistung erbracht. Seine Leistungspflicht, eine Fixschuld, ist gemäß § 275 Abs. 1 BGB untergegangen. Ihre Erfüllung ist damit für jedermann, also objektiv, unmöglich geworden. Bei objektiver Unmöglichkeit entfällt gemäß § 326 Abs. 1 BGB der Gegenanspruch, hier also der Anspruch auf Zahlung des arbeitsvertraglich vereinbarten Entgelts, wenn sich aus § 326 Abs. 2 BGB keine Ausnahme ergibt.
Der mit den Anträgen zu 1 bis 11 geltend gemachte Anspruch des Klägers auf Zahlung eines restlichen Bruttomonatsentgelts in Höhe von 2.411,63 EUR (= 6.164,00 EUR abzüglich bereits geleisteter 3.752,37 EUR) für die Monate Dezember 2022 bis Oktober 2023 ergibt sich aber aus §§ 615 Satz 1, 611 a Abs. 2, 293 ff. BGB. Denn bei grundsätzlich bestehender Leistungswilligkeit und Leistungsbereitschaft des Klägers hat die Beklagte im hier streitgegenständlichen Zeitraum die Arbeitsleistung abgelehnt. Sie war damit im Annahmeverzug und hatte die vertraglich geschuldete Vergütung fortzuzahlen. Es handelt sich hier nicht um einen Schadensersatzanspruch (BAG v. 19.10.2000 – 8 AZR 20/00 -). Daher führen auch Erwägungen zu einem ggfls. vorliegenden Mitverschulden des Klägers nicht weiter. Ein Arbeitszeitkonto ist ein Zeitkonto und nicht ein Geldkonto. Deshalb ist die Freistellung nach dem Lohnausfallprinzip zu vergüten (BAG v. 18.09.2002 – 1 AZR 668/01 –). Der Gläubiger ist damit so zu stellen, als hätte er vertragsgemäß gearbeitet. Das Prinzip ist bekannt aus dem Urlaubsrecht (§ 11 BUrlG, § 7 Abs. 4 BUrlG) und dem Recht der Entgeltfortzahlung (§ 2 ABs. 1 EFZG, § 4 Abs. 1 EFZG). Die Änderung des regelmäßig zu zahlenden Entgelts wirkt sich regelmäßig auf das zu zahlende Entgelt im Zeitraum der Nichtarbeit aus, aber auch auf die Höhe einer Abgeltung (BAG v. 31.05.1990- 8 AZR 161/89 -; Hohmeister/Oppermann, Bundesurlaubsgesetz, BUrlG § 7 Rn. 62).
Wenn der Kläger gearbeitet hätte, dann hätte er im Dezember 2022 genauso wie in den Folgemonaten ein Bruttomonatsentgelt in Höhe von 6.164,00 EUR erhalten. Das gilt auch für den Anteil in Höhe von 164,00 EUR, der als Anwesenheitsprämie gezahlt wird. In der Berufungsverhandlung ist unstreitig geworden, dass die Beklagte in ihrem Unternehmen Anwesenheitsprämien auf der Grundlage der Nummer V 3 der „Betriebs- und Arbeitsordnung P“ zahlt. Nach diesen Regelungen kommt eine Nichtzahlung der Prämie nur im Fall der Arbeitsunfähigkeit in Betracht. Der Kläger war aber im Dezember 2022 nicht arbeitsunfähig. Jedenfalls hat das die Beklagte nicht dargelegt. Für die Beklagte ist die Ausnahmeregelung günstig und daher trägt sie die Darlegungs- und Beweislast für die Tatsachen, die die Ausnahme bedingen sollen.
Eine Vereinbarung der Parteien, die dem vorgenannten Grundsatz des Lohnausfallprinzips entgegenstehen könnte, ist nicht ersichtlich. Insbesondere kann nicht angenommen werden, dass sich die Parteien im Jahre 2004 auf eine Abweichung von dem grundsätzlich anzunehmenden Lohnausfallprinzip geeinigt hätten. Es ist die Beklagte, die sich auf diese Ausnahme beruft, deshalb ist sie es, die die Tatsachen darzulegen und zu beweisen hat, die diese Ausnahme bedingen sollen. Die schriftliche Vereinbarung aus dem Jahre 2004 mit dem Text „… Ihr Guthaben per 30.06.2004 bleibt von dieser Regelung unberührt. Über deren Verwendung wollen wir in den nächsten Monaten eine Vereinbarung treffen.“ ist für die Frage, ob eine vom Lohnausfallprinzip abweichende Vereinbarung getroffen worden ist, ohne Belang. Das gilt auch für die Darlegungen der Beklagten zu einer solchen Vereinbarung im Übrigen: In der Klageerwiderung der Beklagten vom 04.10.2022 heißt es wörtlich „Der Kläger hat sich dann mit der Parkleiterin, Frau H B, getroffen und die beiden haben den Wert der bis dahin geleisteten Überstunden errechnet. Unstreitig hatten die Stunden damals einen Wert von 44.091,42 €, worüber sich die Parteien einig waren (Beweis: …). Frau B räumte dem Kläger ein, sich diesen Betrag auszahlen zu lassen oder aber die 2330 Stunden in der Zukunft angepasst auf die betrieblichen Bedürfnisse zu nehmen. Der Kläger war damit einverstanden und äußerte, dass er vorerst keine Auszahlung möchte, sondern sich Vorbehalte, die Stunden in Natur zu nehmen.“ Und in der Berufungserwiderung trägt die Beklagte vor, „… dass der vom Kläger abrufbare Betrag seinerzeit ausgerechnet und festgelegt wurde, wobei wohl keiner der Parteien davon ausging, dass der Kläger die Überstunden beziehungsweise den Betrag so lange stehen lassen werde.“ Aus diesem Vortrag ergibt sich zwar, dass die Parteien nach der vom Kläger bestrittenen Erinnerung der Beklagten den damaligen Wert der geleisteten Überstunden ausgerechnet haben. Eine solche einvernehmliche Berechnung hätte ggfls. Auswirkungen auf einen im Jahre 2004 anhängigen Abgeltungsprozess gehabt, sie hat aber nichts mit dem Lohnausfallprinzip im Falle der Freistellung zu tun.
Der Anspruch des Klägers auf Zahlung des Entgelts für den Monat November 2023 (Antrag zu 12) ergibt sich ebenfalls aus § 615 BGB. Hier war allerdings die Beklagte zur Zahlung eines Betrages zu verurteilen, der dem ausgefallenen Bruttoentgelt in volle Höhe entspricht also in Höhe von 6.164,00 EUR, weil die Beklagte für den Monat November nicht einmal anteilig Arbeitsentgelt gezahlt hat, sondern gar nichts.
Der Anspruch auf Zahlung der tenorierten 6.164,00 EUR brutto für den Monat Dezember 2023 (Antrag zu 13) folgt aus § 11 BUrlG, also aus einer Vorschrift, die ausdrücklich das Lohnausfallprinzip zum Gegenstand hat.
Der Anspruch des Klägers gegen die Beklagte auf Zahlung der beantragten Zinsen ergibt sich für alle vom Kläger geltend gemachten Ansprüche aus §§ 186, 288 BGB.
Die Ansprüche sind weder verfallen noch verwirkt noch verjährt. Der Arbeitsvertrag sieht einen Anspruchsverfall nur für den Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses vor, ist also hier nicht anwendbar. Nach der Regelung in Nummer XII. der „Betriebs- und Arbeitsordnung P“ sind Ansprüche aus dem laufenden Jahr bis zum 31. März des Folgejahres geltend zu machen. Mit Blick auf die Entgeltansprüche für die streitgegenständlichen Monate ist diese Ausschlussfrist durch das am 21.03.2022 eingeleitete Klageverfahren ohne weiteres eingehalten, denn der älteste hier streitige Entgeltanspruch ergibt sich aus der Freistellung im Monat Dezember 2022. Denkbar wäre es gewesen, (nicht dem Entgeltanspruch sondern) dem Freistellungsanspruch des Klägers mit der Einrede der Verjährung oder der Einwendung des Verfalls entgegenzutreten. Dabei muss hier nicht entschieden werden, ob eine solche Einrede oder ein solche Einwendung Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Denn inzwischen ist beides nicht mehr möglich, da die Freistellung bereits erfolgt ist. Die gezahlte und zu zahlende Vergütung kann auch nicht gemäß § 812 BGB mit der Begründung zurückgefordert oder zurückgewiesen werden, die Leistung „Freistellung“ sei wegen der Verjährung des Anspruchs ohne Rechtsgrund erfolgt. Das wäre dann nämlich ein Fall der Kenntnis der Nichtschuld im Sinne des § 814 BGB. Der jeweilige Vergütungsanspruch wird jedenfalls erst Monat für Monat der Freistellung fällig. Tatsachen, aus denen eine Rechtfertigung des Verwirkungseinwands folgen könnten, sind nicht ersichtlich und nicht vorgetragen. Es fehlt hier schon am notwendigen Zeitmoment eines Verwirkungseinwands. Wie bereits gezeigt hat der Kläger die richtige Vergütung für den Freistellungszeitraum zum Teil sogar vorfällig geltend gemacht.