Der Europäische Gerichtshof hat am 24.02.2022 zum Aktenzeichen C-143/20 und C-213/20 den Umfang der vorvertraglichen Mitteilungspflicht bei unit-linked-Verträgen über Gruppenlebensversicherungen geklärt.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 36/22 vom 24.02.2022 ergibt sich:
Die polnischen Verbraucher A (Rechtssache C-143/20) sowie G.W. und E.S. (Rechtssache C-213/20) traten als Versicherte Verträgen über fondsgebundene Gruppenlebensversicherungen, sogenannten unit-linked-Verträgen, bei, die zwischen einem Versicherungsunternehmen und einem als Versicherungsnehmer handelnden Unternehmen geschlossen worden waren.
Durch ihren Beitritt, der von dem als Versicherungsnehmer handelnden Unternehmen angeboten und abgewickelt wurde, verpflichteten sich diese Verbraucher, im Gegenzug für die Leistungen im Fall des Todes des Versicherten oder seines Erlebens des Endes der Versicherungszeit die Versicherungsprämien zu zahlen. Diese Prämien wurden in Anteile eines Investmentfonds umgewandelt und dann in Finanzinstrumente angelegt, von denen der Wert dieser Anteile abhing und die die „zugrunde liegenden Vermögenswerte“ der unit-linked-Verträge bilden.
Wegen des erheblichen Wertverlusts dieser Anteile haben diese Verbraucher Klage auf Rückzahlung sämtlicher ihrer angelegten Summen erhoben und geltend gemacht, dass sie nicht mit der erforderlichen Detailliertheit über die Merkmale und Risiken dieser Versicherungsprodukte informiert worden seien.
Vor diesem Hintergrund hat der Sąd Rejonowy dla Warszawy-Woli w Warszawie (Rayongericht Warschau-Wola, Polen) den Gerichtshof ersucht, den Umfang der von der Lebensversicherungsrichtlinie1 zugunsten eines Versicherungsnehmers eines Lebensversicherungsvertrags vorgesehenen vorvertraglichen Mitteilungspflicht und die Folgen der Nichtvornahme dieser (vollständigen) Mitteilung zu klären.
In seinem heutigen Urteil stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass das Versicherungsverhältnis zwischen dem Versicherungsunternehmen und dem Verbraucher, der einem unit-linked-Gruppenvertrag beigetreten ist, unter den Begriff des Versicherungsvertrags im Sinne der Richtlinie 2002/83 fällt, so dass der Verbraucher, der durch seinen Beitritt zu dem Gruppenvertrag Partei dieses Versicherungsverhältnisses wird, unter den Begriff des Versicherungsnehmers im Sinne der Richtlinie fällt. Deshalb hat dieser Verbraucher vor seinem Beitritt zu dem unit-linked-Gruppenvertrag die Informationen zu erhalten, deren Mitteilung die Richtlinie vor Abschluss des Lebensversicherungsvertrags verlangt, damit er das seinen Bedürfnissen am ehesten entsprechende Versicherungsprodukt in voller Sachkenntnis auswählen kann.
Sodann stellt der Gerichtshof in Bezug auf das Rechtssubjekt, dem die vorvertragliche Mitteilungspflicht obliegt, zum einen fest, dass das Versicherungsunternehmen vor Abschluss eines unit-linked-Gruppenvertrags dem diesen Vertrag annehmenden Unternehmen mindestens die in der Richtlinie 2002/832 aufgeführten Angaben mitzuteilen hat. In Anbetracht der Eigenart eines solchen Vertrags, der an die Endverbraucher vermarktet werden soll, und der Anforderung, dass die Endverbraucher diese Angaben vor ihrem Beitritt zu diesem Vertrag erhalten müssen, um das ihren Bedürfnissen am ehesten entsprechende Versicherungsprodukt auswählen zu können, ist das Versicherungsunternehmen verpflichtet, diese Angaben im Hinblick auf ihre anschließende Übermittlung an die Endverbraucher in dem zum Beitritt zu diesem Vertrag führenden Verfahren auf klare, genaue und für sie verständliche Weise zu formulieren. Zum anderen obliegt es dem Unternehmen, das einen unit-linked-Gruppenvertrag abschließt und dabei als Versicherungsvermittler im Sinne der Richtlinie 2002/923 handelt, die ihm vom Versicherungsunternehmen zur Verfügung gestellten Angaben jedem Verbraucher zu übermitteln, der diesem Vertrag beitritt, und zwar bevor er ihm beitritt. Diese Angaben müssen alle weiteren Einzelheiten enthalten, die sich unter Berücksichtigung der Wünsche und Bedürfnisse des Verbrauchers, die anhand der von ihm mitgeteilten Informationen zu bestimmen sind, als erforderlich erweisen. Diese Einzelheiten sind der Komplexität des genannten Vertrags anzupassen und in klarer, genauer und für den Verbraucher verständlicher Form zu formulieren.
Der Gerichtshof äußert sich ferner zur Angabe der Art der zugrunde liegenden Vermögenswerte, die einem Verbraucher vor dessen Beitritt zu einem unit-linked-Gruppenvertrag mitzuteilen sind. Insoweit betont er, dass die Merkmale der Finanzinstrumente, aus denen die einem unit-linked-Vertrag zugrunde liegenden Vermögenswerte bestehen, bei der vom Verbraucher in voller Sachkenntnis vorgenommenen Auswahl eines solchen Versicherungsprodukts von entscheidender Bedeutung sind. Dies gilt erst recht, wenn es sich bei diesen zugrunde liegenden Vermögenswerten wie hier um derivative Instrumente oder strukturierte Produkte, die derivative Instrumente enthalten, handelt, die ein besonders hohes Anlagerisiko aufweisen. Daher müssen diese Angaben, damit die nach der Richtlinie 2002/83 bestehende Pflicht ihre praktische Wirksamkeit behält, Angaben über die wesentlichen Merkmale dieser zugrunde liegenden Vermögenswerte enthalten.
Der Gerichtshof weist allerdings darauf hin, dass diese Angaben es nicht nur dem Verbraucher ermöglichen müssen, auf informierter Grundlage das seinen Bedürfnissen am ehesten entsprechende Versicherungsprodukt in voller Sachkenntnis auszuwählen, sondern für diese Auswahl auch objektiv erforderlich sein müssen. Daher müssen diese Angaben klare, genaue und verständliche Informationen über die wirtschaftliche und rechtliche Natur dieser zugrunde liegenden Vermögenswerte einschließlich der für ihre Rendite geltenden allgemeinen Grundsätze sowie über die mit diesen Vermögenswerten verbundenen strukturellen Risiken enthalten, d. h. die Risiken, die ihnen wesensgemäß anhaften und die sich aus dem Versicherungsverhältnis ergebenden Rechte und Pflichten unmittelbar berühren können. Die Angabe der Art der zugrunde liegenden Vermögenswerte muss aber weder zwingend vollständige Informationen über Art und Umfang aller mit der Anlage in diese zugrunde liegenden Vermögenswerte verbundenen Risiken noch dieselben Informationen enthalten wie diejenigen, die der Emittent der Finanzinstrumente, aus denen sie bestehen, dem Versicherungsunternehmen übermittelt hat.
Des Weiteren klärt der Gerichtshof zum einen, dass im Fall eines unit-linked-Gruppenvertrags die in der Richtlinie 2002/83 genannten Informationen dem Verbraucher vor Unterzeichnung der Beitrittserklärung zu diesem Vertrag mitzuteilen sind, mit der dieser Verbraucher darin einwilligt, durch diesen Vertrag gebunden zu sein, und damit Partei eines Versicherungsvertragsverhältnisses mit dem Versicherungsunternehmen wird. Zum anderen ist es mangels harmonisierter Vorschriften Sache der Mitgliedstaaten, die Modalitäten für die Erfüllung der in dieser Richtlinie vorgesehenen vorvertraglichen Mitteilungspflicht festzulegen, sofern die praktische Wirksamkeit dieser Richtlinie unter Berücksichtigung des mit ihr verfolgten Zwecks gewährleistet ist.
Das bedeutet, dass die in der Richtlinie 2002/83 genannten Informationen dem Verbraucher nicht zwingend im Rahmen eines gesonderten vorvertraglichen Verfahrens mitzuteilen sind und in dem unit-linked-Gruppenvertrag aufgeführt werden können, sofern er diesem Verbraucher rechtzeitig vor seinem Beitritt ausgehändigt wird, damit dieser auf informierter Grundlage das seinen Bedürfnissen am ehesten entsprechende Versicherungsprodukt in voller Sachkenntnis auswählen kann.
Der Gerichtshof fügt hinzu, dass die nicht ordnungsgemäße Erfüllung der Pflicht zur Mitteilung der Informationen nach der Richtlinie 2002/83 nicht zur Nichtigkeit oder Ungültigkeit eines unit-linked-Gruppenvertrags oder der Beitrittserklärung zu diesem Vertrag führt und somit dem diesem Vertrag beigetretenen Verbraucher keinen Anspruch auf Erstattung der gezahlten Versicherungsprämien verleiht, sofern die im nationalen Recht für die Ausübung des Rechts auf Geltendmachung dieser Mitteilungspflicht vorgesehenen Verfahrensvorschriften nicht geeignet sind, die Wirksamkeit dieses Rechts dadurch in Frage zu stellen, dass sie den Verbraucher davon abhalten, es auszuüben. Deshalb hat das nationale Gericht zu prüfen, ob die Rechtswirkungen, die die anwendbaren nationalen Vorschriften bei nicht ordnungsgemäßer Erfüllung dieser Mitteilungspflicht vorsehen, so geregelt sind, dass die praktische Wirksamkeit der Pflicht gewährleistet ist. Dabei muss das nationale Gericht seine Auslegung dieser Bestimmungen einschließlich der für die Nichtigkeit von Rechtsakten und für Willensmängel geltenden allgemeinen Vorschriften so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck dieser Richtlinie ausrichten.
Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass die Unterlassung der Mitteilung der in der Richtlinie 2002/83 genannten Informationen an den Verbraucher, der einem unit-linked-Gruppenvertrag beitritt, eine irreführende Unterlassung im Sinne der Richtlinie 2005/294 darstellen kann. Denn zum stellen diese Informationen wesentliche Informationen dar, die der durchschnittliche Verbraucher je nach den Umständen benötigt, um eine informierte geschäftliche Entscheidung zu treffen. Zum anderen ist in Anbetracht der fundamentalen Bedeutung dieser Informationen bei der in voller Sachkenntnis vorzunehmenden Auswahl des den Bedürfnissen des Verbrauchers am ehesten entsprechenden Versicherungsprodukts die Unterlassung der Mitteilung dieser Informationen, ihre Verheimlichung oder ihre Mitteilung auf unklare, unverständliche, zweideutige Weise oder ihre nicht rechtzeitige Mitteilung offensichtlich geeignet, den Verbraucher zu einer geschäftlichen Entscheidung zu veranlassen, die er sonst nicht getroffen hätte.
1 Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen (ABl. 2002, L 345, S. 1).
2 Anhang III, Buchst. A.
3 Directive 2002/92/CE du Parlement européen et du Conseil, du 9 décembre 2002, sur l’intermédiation en assurance (JO 2003, L 9, p. 3).