Das Oberlandesgericht Stuttgart hat am 08.03.2022 zum Aktenzeichen 1 Ws 33/22 das Hauptverfahren gegen einen 52-Jährigen aus Rottweil wegen des Verdachts der Urkundenfälschung durch Vorlage eines gefälschten Impfbuchs in einer Apotheke eröffnet und die Anklage gegen ihn zur Hauptverhandlung vor dem LG Hechingen zugelassen.
Aus der Pressemitteilung des OLG Stuttgart vom 11.03.2022 ergibt sich:
Dabei hatte der 1. Strafsenat die nicht nur zwischen Landgericht und Staatsanwaltschaft Hechingen, sondern aktuell in Literatur und Rechtsprechung insgesamt deutschlandweit äußerst kontrovers diskutierte Frage, ob das Delikt des Gebrauchs unrichtiger Gesundheitszeugnisse nach 279 StGB in der bis zum 23. November 2021 geltenden Fassung im Verhältnis zum Delikt der Urkundenfälschung eine privilegierende Spezialvorschrift darstellt und deshalb ein Rückgriff auf das allgemeinere Delikt der Urkundenfälschung ausgeschlossen ist, zu klären. Er hat – wie zuvor auch schon das Hanseatische Oberlandesgericht Hamburg – entschieden, dass der Gesetzgeber Gesundheitszeugnisse nicht grundsätzlich anders behandeln wollte als sonstige Urkunden, und jene somit nicht aus dem Anwendungsbereich der Urkundenfälschung herausfallen sollten. Der Senat sah die zur Tatzeit und bis 23. No-vember 2021 geltende Fassung des § 279 StGB (Gebrauch unrichtiger Gesundheitszeugnisse) gegenüber dem Delikt der Urkundenfälschung nur dann als verdrängenden Privilegierungstatbestand an, wenn von dem unrichtigen Gesundheitszeugnis zu dem Zweck Gebrauch gemacht wurde, eine Behörde oder Versicherungsgesellschaft zu täuschen.
Die Staatsanwaltschaft Hechingen wirft dem Mann vor, am 8. November 2021 in einer Apotheke im Zollernalbkreis einer Mitarbeiterin ein auf seinen Namen ausgestelltes gelbes Impfbuch nach Muster der Weltgesundheitsorganisation vorgelegt zu haben, in dem unter der Überschrift „Schutzimpfungen gegen COVID-19“ zwei Eintragungen zu tatsächlich nicht erfolgten Impfungen eingetragen waren, wobei als ausstellender Arzt jeweils unrichtig das „Impfzentrum Rottweil“ mit Signierung eingetragen gewesen sein soll. Durch die Vorlage des Dokuments habe er in Kenntnis der wahren Sachlage über seine tatsächlich nicht erfolgten Impfungen gegen das Corona-Virus täuschen und die Ausstellung eines sogenannten digitalen Impfnachweises erlangen wollen. Die 1. Große Strafkammer des Landgerichts Hechingen hatte mit Beschluss vom 25. Januar 2022 die Eröffnung des Hauptverfahrens aus rechtlichen Gründen abgelehnt, ein Rückgriff auf das allgemeinere Delikt der Urkundenfälschung sei aus Rechtsgründen ausgeschlossen.
Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft hat das Oberlandesgericht die Nichteröffnung aufgehoben und das Hauptverfahren eröffnet.
Voraussetzung hierfür ist nach § 203 Strafprozessordnung, dass nach den Ergebnissen des vorbereitenden Verfahrens ein Angeschuldigter einer Straftat hinreichend verdächtig erscheint, d.h. wenn bei vorläufiger Tatbewertung auf Grundlage des Ermittlungsergebnisses die Verurteilung in einer Hauptverhandlung überwiegend wahrscheinlich ist. Dafür bedarf es – anders als für eine Verurteilung – noch keiner Überzeugung des Gerichts von der Schuld. Das Beschwerdegericht hat, wenn die Nichteröffnung mit der sofortigen Beschwerde angegriffen ist, u. a. auch die rechtliche Würdigung des Erstgerichts in vollem Umfang nachzuprüfen.
Nach diesem Maßstab ist der Angeklagte für den 1. Strafsenat der ihm vorgeworfenen Tat der Urkundenfälschung hinreichend verdächtig. Vollständig ausgefüllte Impfbücher seien als sogenannte verkörperte Gedankenerklärungen, die zum Beweis geeignet und bestimmt sind, und ihren Aussteller erkennen lassen, Urkunden im Sinne des § 267 StGB. Einem solchen Impfbuch sei die Gedankenerklärung des (angeblichen) Impfarztes zu entnehmen, dass der Inhaber die bezeichneten Impfungen an einem bestimmten Datum erhalten habe, und dass hierbei das Vakzin einer bestimmten Charge verwendet worden sei. Die Urkunde sei hier aufgrund der Täuschung über den Aussteller falsch gewesen. Von dieser gefälschten Urkunde sei im Rechtsverkehr durch die Vorlage in der Apotheke zur Erlangung eines digitalen Impfnachweises auch Gebrauch gemacht worden.
Die Anwendung des Straftatbestandes der Urkundenfälschung gemäß § 267 Abs. 1 StGB werde – so der Senat – im vorliegenden Fall nicht durch § 279 a. F. StGB verdrängt. Zwar handle es sich bei dem durch den Angeklagten vorgelegten Impfpass um ein objektiv unrichtiges Gesundheitszeugnis im Sinne von § 279 StGB. Eine Strafbarkeit nach dieser Vorschrift setzte jedoch bis zum 23. November 2021 das Gebrauchen des Gesundheitszeugnisses zur Täuschung einer Behörde oder einer Versicherungsgesellschaft voraus. Bei einer Apotheke handle es sich nicht um eine Behörde in diesem Sinne, sondern um ein privates Unternehmen. Auch die Tatsache, dass die Durchführung einer Schutzimpfung gegen das Coronavirus in einem digitalen Impfzertifikat auch von Apotheken zu bescheinigen sei, führe nicht dazu, dass diese als Behörden im Sinne des § 279 StGB a.F. anzusehen seien. Da das Impfbuch im vorliegenden Fall somit nicht dazu gebraucht wurde, um eine Behörde bzw. Versicherungsgesellschaft zu täuschen, vermöge – so der Senat – die zur Tatzeit geltende Fassung des § 279 StGB gegenüber dem Delikt der Urkundenfälschung bei einer systematischen Gesamtbetrachtung keine Sperrwirkung zu entfalten. Das Verhältnis zwischen § 267 StGB und den §§ 277 ff. StGB in der bis zum 23. November 2021 geltenden Fassung sei gesetzlich nicht ausdrücklich bestimmt. Das Gesetz enthalte insbesondere keine ausdrücklichen Hinweise auf einen Anwendungsvorrang der §§ 277 ff. StGB.
Die 1. Große Strafkammer des Landgerichts Hechingen wird nun nach Durchführung einer Hauptverhandlung über den Anklagevorwurf zu befinden haben. Gegen ein Urteil steht das Rechtmittel der Revision zum Bundesgerichtshof offen, so dass dieser dann gegebenenfalls die Möglichkeit hat, diese grundsätzliche, für eine Vielzahl gleich gelagerter Fälle relevante Frage zu klären.