Vorläufige Unterbringung ohne Anhörung des Betroffenen ist verfassungswidrig

08. Oktober 2020 -

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 04. August 2020 zum Aktenzeichen 2 BvR 1692/19 entschieden, dass eine Anordnung zur vorläufigen Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung ohne persönliche Anhörung des betroffenen verfassungswidrig ist, da eine solche den Betroffenen in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und 2 GG verletzt.

Die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) ist ein besonders hohes Rechtsgut, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden darf (vgl. BVerfGE 10, 302 <322>; 29, 312 <316>). Nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG darf die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Die formellen Gewährleistungen des Art. 104 GG stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in unlösbarem Zusammenhang (vgl. BVerfGE 10, 302 <322>; 58, 208 <220>). Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen, indem er neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz die Pflicht, die sich aus diesem Gesetz ergebenden freiheitsschützenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt (vgl. BVerfGE 10, 302 <323>; 29, 183 <195 f.>; 58, 208 <220>).

Inhalt und Reichweite der Formvorschriften, deren Beachtung über Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG zum Verfassungsgebot erhoben ist, sind von den Fachgerichten so auszulegen, dass sie eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene Wirkung entfalten können. Jenseits der Grenze der Aushöhlung und Entwertung des Grundrechts über das Verfahrensrecht verbleibt den Fachgerichten aber Raum, sich zwischen mehreren möglichen Deutungen des Gesetzes zu entscheiden (vgl. BVerfGK 18, 125 <132>). Das Bundesverfassungsgericht greift erst dann korrigierend ein, wenn das fachgerichtliche Auslegungsergebnis über die vom Grundgesetz gezogenen Grenzen hinausgreift, insbesondere wenn es mit Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf persönliche Freiheit nicht zu vereinbaren ist oder wenn es sachlich schlechthin unhaltbar ist und somit Willkür vorliegt (vgl. BVerfGE 65, 317 <322 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Februar 2009 – 2 BvR 1537/08 -, Rn. 14).

Die die Freiheit sichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG setzt weiterhin Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für die Anforderungen in Bezug auf die tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidung. Es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (vgl. BVerfGE 70, 297 <308>; 83, 24 <32>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Juni 2015 – 2 BvR 2236/14 -, Rn. 17).

Das Gebot, den Betroffenen grundsätzlich vor Erlass einer einstweiligen Anordnung mündlich anzuhören, gehört zu den bedeutsamen Verfahrensgarantien, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht (vgl. BVerfGE 58, 208 <220 f.>; BVerfGK 11, 323 <331>). Die Anhörung erschöpft sich, wie sich durch das Erfordernis ihrer Mündlichkeit erweist, nicht in der bloßen Gewährung rechtlichen Gehörs. Vorrangiger Zweck der Anhörung im Unterbringungsverfahren ist es vielmehr, dem Richter einen persönlichen Eindruck von dem Betroffenen und der Art seiner Erkrankung zu verschaffen, damit er in den Stand gesetzt wird, ein klares und umfassendes Bild von der Persönlichkeit des Unterzubringenden zu gewinnen und seiner Pflicht zu genügen, den ärztlichen Gutachten richterliche Kontrolle entgegenzusetzen. Der persönliche Eindruck des entscheidenden Richters gehört deshalb als Kernstück des Amtsermittlungsverfahrens (§ 26 FamFG) zu den wichtigsten Verfahrensgrundsätzen des Unterbringungsrechts (vgl. BVerfGE 58, 208 <222 f.>). Unterbleibt die Anhörung zunächst wegen Gefahr im Verzug, so ist sie vor diesem Hintergrund zumindest unverzüglich nachzuholen (vgl. BVerfGE 66, 191 <196>; BVerfGK 11, 323 <331>). Zu diesem Zweck müssen bei Unterbringungsmaßnahmen im Hinblick auf die ihnen eigene Eilbedürftigkeit andere, weniger vordringliche Dienstgeschäfte notfalls zurückgestellt werden (vgl. BVerfGE 58, 208 <222>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Januar 1990 – 2 BvR 1592/88 -, NJW 1990, S. 2309 <2310>).

Das Amtsgericht hat die Pflicht zur Anhörung des Betroffenen nach § 331 Satz 1 Nr. 4 FamFG verletzt. Eine einstweilige Anordnung ohne Anhörung des Beschwerdeführers ist gemäß § 332 FamFG nur bei Gefahr im Verzug möglich. Gefahr im Verzug ist anzunehmen, wenn konkrete Gründe dafür vorliegen, dass bereits der durch die Anhörung bedingte zeitliche Aufschub der Unterbringungsmaßnahme die Gefahr erheblicher Nachteile für den Betroffenen oder Dritte mit sich bringen würde (Roth, in: Prütting/Helms, FamFG, 4. Aufl. 2018, § 332 FamFG, Rn. 4). Dabei ist abzuwägen zwischen der Bedeutung der Anhörung als zentralem Verfahrensrecht des Betroffenen und den drohenden Nachteilen für den Betroffenen oder Dritte, falls die Entscheidung nicht zeitnah ergeht (Günter, in: BeckOK FamFG, 32. Ed. 1.10.2019, § 332 Rn. 3).

Für das Vorliegen einer Gefahr im Verzug sind hier jedoch keine Anhaltspunkte ersichtlich. Das Amtsgericht nennt zwar die Norm des § 332 FamFG, erörtert aber nicht die Voraussetzungen für eine gesteigerte Dringlichkeit. Das Landgericht geht auf § 332 FamFG gar nicht ein. Vielmehr beschränken sich die Entscheidungen auf die Anforderungen des § 331 FamFG. Auch in der Sache können die gerichtlichen Annahmen zur Dringlichkeit eine Gefahr im Verzug nicht rechtfertigen.

Für den schwersten Eingriff in das Recht auf Freiheit der Person, die Freiheitsentziehung, sieht Art. 104 Abs. 2 GG den verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung vor. Der Zweck dieses verfassungsrechtlichen Verfahrensschutzes besteht darin, dass sich das zuständige Gericht nicht auf die Prüfung der mit der Antragstellung vorgetragenen Gründe beschränkt, sondern eigenverantwortlich die Tatsachen feststellt, die eine Freiheitsentziehung rechtfertigen. Die persönliche Anhörung des Betroffenen ist gerade bei eilbedürftigen Entscheidungen hierfür ein geeignetes Mittel (vgl. BVerfGE 83, 24 <34>, BVerfGK 9, 132 <142>). Das Gericht darf diese Anhörung und damit die verfassungsrechtliche Garantie einer richterlichen Entscheidung über die Freiheitsentziehung nicht dadurch zur behördlichen Disposition stellen, dass es Anliegen der antragstellenden Behörde, beziehungsweise hier des Betreuers oder der Einrichtung, zur besseren Verfahrensgestaltung den Vorrang einräumt. Sachzwänge, die allein aus solchen, für sich genommen berechtigten, Anliegen zur Verfahrensverbesserung entstehen, können daher keine Gefahr im Verzug begründen, wie § 332 FamFG es verlangt (vgl. BVerfGK 9, 132 <140, 142>).

Auch eine nachträgliche Anhörung heilt den Verfassungsverstoß nicht, wenn sie nicht unverzüglich erfolgt; Unverzüglichkeit liegt dabei nicht vor, wenn die Anhörung um 21 Tage verzögert erfolgt.

Zudem kann das Unterlassen einer für die richterliche Anordnung der Freiheitsentziehung erforderlichen Anhörung nicht rückwirkend geheilt werden. Das Unterlassen der verfahrens- und verfassungsrechtlich gebotenen mündlichen Anhörung drückt der wegen ihrer grundlegenden Bedeutung der gleichwohl angeordneten Maßnahme den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung auf, der durch Nachholung der Anhörung rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist. Die Unterlassung der vorgeschriebenen Anhörung hat nicht nur zur Folge, dass dem Unterzubringenden ein prozessuales Recht lediglich vorübergehend vorenthalten wird. Sie bedeutet vielmehr, dass die Entscheidung über den Entzug der persönlichen Freiheit auf unzureichender richterlicher Sachaufklärung beruht. Einer nachgeholten Anhörung, die nur unter engen zeitlichen Voraussetzungen zulässig ist, kann daher nur für die Zukunft „heilende Wirkung“ beigemessen werden, so dass die Aufrechterhaltung der Unterbringung nach Anhörung einem erstmals formell ordnungsgemäßen Neuerlass der Anordnung gleichzuachten ist (vgl. BVerfGE 58, 208 <222 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Januar 1990 – 2 BvR 1592/88 -, NJW 1990, S. 2309 <2310>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 11. März 1996 – 2 BvR 927/95 -, InfAuslR 1996, S. 198 <201>; BVerfGK 9, 132 <137 f.>; 13, 400 <404 f.>). Für die Unterbringung im Zeitraum vom 8. April bis zum 19. Mai 2019 fehlt es an einer nachgeholten Anhörung und einem darauf beruhenden Beschluss der Aufrechterhaltung der Unterbringung. Der Anhörung am 29. April 2019 folgte keine richterliche Entscheidung über die Aufrechterhaltung der Genehmigung der Unterbringung vom 8. April 2019. Richterliche Entscheidungen zur Weiterführung der Unterbringung erfolgten erst für den Folgezeitraum nach dem 19. Mai 2019.