Der Bundesgerichtshof hat mit Urteil vom 20. August 2024 zum Aktenzeichen 5 StR 326/23 entschieden, dass die Revision einer 99 Jahre alten ehemaligen Zivilangestellten der SS verworfen wird, mit der sie sich gegen ihre Verurteilung durch das Landgericht Itzehoe wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen und versuchtem Mord in fünf Fällen zu einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe von zwei Jahren gewandt hatte.
Aus der Pressemitteilung des BGH Nr. 166/2024 vom 20.08.2024 ergibt sich:
Nach den Urteilsfeststellungen war die im Tatzeitraum 18 und 19 Jahre alte Beschwerdeführerin vom 1. Juni 1943 bis zum 1. April 1945 als einzige Stenotypistin in der Kommandantur des von der SS betriebenen Konzentrationslagers Stutthof beschäftigt. Das Landgericht ist zu der Überzeugung gelangt, dass die Angeklagte durch die Erledigung von Schreibarbeit in der Kommandantur die Haupttäter willentlich dabei unterstützt habe, Gefangene durch Vergasungen, durch die Schaffung lebensfeindlicher Bedingungen im Lager, durch Transporte in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und durch Verschickung auf sogenannte Todesmärsche grausam zu töten oder dies versucht zu haben. Ihre Arbeit sei für die Organisation des Lagers und die Durchführung der grausamen, systematischen Tötungshandlungen notwendig gewesen.
Der 5. Strafsenat hat nach mehrstündiger Hauptverhandlung am 31. Juli 2024 (vgl. Pressemitteilung 156/2024) durch Urteil vom heutigen Tage die mit der Sachrüge geführte Revision der Angeklagten verworfen. Dabei hat er sich auf die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu Beihilfehandlungen im Zusammenhang mit staatlich organisierten Massenverbrechen gestützt und diese fortgeführt (BGH, Beschluss vom 20. September 2016 – 3 StR 49/16 zu einem Wachmann im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, vgl. Pressemitteilung 213/2016). In solchen Konstellationen sind einerseits an jeder einzelnen begangenen Mordtat eine Vielzahl von Personen in politisch, verwaltungstechnisch oder militärisch-hierarchisch verantwortlicher Position ohne eigenhändige Ausführung einer Tötungshandlung beteiligt. Andererseits wirken aber auch eine Mehrzahl von Personen in Befolgung hoheitlicher Anordnungen und im Rahmen einer hierarchischen Befehlskette unmittelbar an der Durchführung der einzelnen Tötungen mit. Deshalb ist eingehend zu prüfen, ob die dem Gehilfen vorgeworfenen Handlungen die Tathandlung zumindest eines der an dem Mord Mitwirkenden im Sinne des § 27 Abs. 1 StGB gefördert haben.
Nach der rechtsfehlerfreien Würdigung des Landgerichts war dies bei der Angeklagten der Fall. Sie half durch ihre Schreibarbeit dem Lagerkommandanten und dessen Adjutanten, mit denen sie vertrauensvoll zusammenarbeitete, nicht nur physisch. Sie unterstützte diese durch ihre Einordnung in den Lagerbetrieb als zuverlässige und gehorsame Untergebene auch psychisch bei der Begehung der 10.505 vollendeten und fünf versuchten grausamen Morde, die das Landgericht ihr zugerechnet hat. Ihre Tätigkeit als einzige Stenotypistin war für den durchweg bürokratisch organisierten Lagerbetrieb von zentraler Bedeutung. Insoweit kam es nicht entscheidend darauf an, dass die Strafkammer nicht hat ausschließen können, dass einzelne Schreiben auch von anderen erstellt worden sein könnten.
Die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Straffreiheit von berufstypisch neutralen Handlungen mit „Alltagscharakter“ stehen der Verurteilung der Angeklagten schon deshalb nicht entgegen, weil sie von dem verbrecherischen Handeln der von ihr unterstützten Haupttäter positive Kenntnis hatte und sich durch ihre dennoch erbrachten Dienste gleichsam mit ihnen solidarisierte, wodurch ihr Tun jeglichen „Alltagscharakter“ verlor.