Der Europäische Gerichtshof hat am 17.12.2020 zum Aktenzeichen C-316/19 entschieden, dass die Republik Slowenien gegen die Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit mit der Europäischen Zentralbank (EZB) verstoßen hat, indem die slowenischen Behörden im Jahr 2016 Geschäftsräume der slowenischen Zentralbank durchsucht und Dokumente ihres damaligen Präsidenten beschlagnahmt haben.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 162/2020 vom 17.12.2020 ergibt sich:
Am 06.07.2016 führten die slowenischen Behörden in den Räumlichkeiten der Banka Slovenije (Zentralbank Sloweniens) eine Durchsuchung und eine Beschlagnahme von Dokumenten in Papier- und elektronischer Form durch. Die beschlagnahmten Dokumente umfassten alle über das E-Mail-Konto des damals amtierenden Präsidenten getätigten Mitteilungen, sämtliche elektronischen Dokumente, die sich – unabhängig von ihrem Inhalt – auf seinem Büro-PC und seinem Laptop befanden und sich auf den Zeitraum von 2012 bis 2014 bezogen, sowie Unterlagen über diesen Zeitraum, die sich im Büro des Präsidenten befanden. Diese Maßnahmen wurden im Rahmen von Ermittlungen gegen bestimmte Bedienstete der Banka Slovenije, darunter den Präsidenten, durchgeführt, gegen die der Verdacht bestand, 2013 im Rahmen der Restrukturierung einer slowenischen Bank ihre Befugnisse und ihr Amt missbraucht zu haben. Obgleich sich die Banka Slovenije darauf berief, dass diese Maßnahmen eine Beeinträchtigung des Grundsatzes der Unverletzlichkeit der „Archive der EZB“ seien, der sich aus dem Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union (ABl. 2016, C 202, 266) ergebe und jeden Zugriff nationaler Behörden auf diese Archive unter die Bedingung einer ausdrücklichen Zustimmung der EZB stelle, setzten die slowenischen Behörden die Durchsuchung und die Beschlagnahme der Dokumente fort, ohne die EZB einzubeziehen.
In diesem Zusammenhang teilte die EZB den slowenischen Behörden mit, dass ihre Archive nicht nur die von ihr in Erfüllung ihrer Aufgaben ausgearbeiteten Dokumente, sondern auch die Mitteilungen zwischen ihr und den nationalen Zentralbanken, die für die Erfüllung der Aufgaben des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) oder des Eurosystems erforderlich seien, sowie die von den Zentralbanken ausgearbeiteten Dokumente, die für die Erfüllung der Aufgaben des ESZB oder des Eurosystems bestimmt seien, umfassten. Die EZB gab auch an, dass sie sich einer Aufhebung des Schutzes, der den von den slowenischen Behörden beschlagnahmten Dokumente zugutekomme, unter bestimmten Bedingungen nicht widersetzen werde. Da sie der Auffassung war, dass die einseitige Durchführung der Beschlagnahme der fraglichen Dokumente einen Verstoß gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB darstelle und die slowenischen Behörden entgegen der Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV; Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen, Art. 18) keine konstruktiven Erörterungen geführt hätten, um die rechtswidrigen Folgen der Missachtung dieses Grundsatzes zu beheben, hat die Kommission beim EuGH eine Vertragsverletzungsklage gegen Slowenien erhoben.
Der EuGH hat der Klage der Kommission stattgegeben und alle vorgeworfenen Vertragsverletzungen festgestellt.
Nach Auffassung des EuGH hat die Republik Slowenien mit der einseitigen Beschlagnahme von Dokumenten, die zu den Archiven der Europäischen Zentralbank (EZB) gehören, gegen ihre Pflicht verstoßen, den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der Union zu beachten. Zudem habe Slowenien gegen seine Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit gegenüber der Union verstoßen, indem es mit der EZB nicht ordnungsgemäß zusammengearbeitet habe, um die rechtswidrigen Folgen dieses Verstoßes zu beheben.
Die vorliegende Rechtssache gibt dem EuGH somit Gelegenheit, zu präzisieren, welche Voraussetzungen für den Schutz der Archive der Union gelten, wenn die Behörden eines Mitgliedstaats eine einseitige Beschlagnahme von zu diesen Archiven gehörigen Dokumenten in anderen Räumlichkeiten als den Gebäuden und Räumlichkeiten der Union durchführen, und insbesondere, unter welchen Voraussetzungen ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB festgestellt werden kann.
- Zum Begriff „Archive der EZB“
Nach Auffassung des EuGH gilt der Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der Union für die Archive der EZB, da die EZB ein Unionsorgan ist. Insoweit erfassen die Archive der Union die Archive eines Unionsorgans wie der EZB auch dann, wenn sie sich in anderen Räumlichkeiten als den Gebäuden und Räumlichkeiten der Union befinden (Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen, Art. 1 und 2). Die EZB und die nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten bilden das ESZB und die Währungspolitik der Union wird von der EZB und den nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro sei, einschließlich der Banka Slovenije, betrieben, da diese Banken das Eurosystem bildeten (Art. 282 Abs. 1 AEUV; Protokoll über das ESZB und die EZB, Art. 1 und 14.3). Die Präsidenten dieser Banken, darunter der Präsident der Banka Slovenije, seien Mitglieder des EZB-Rates (Art. 283 Abs. 1 AEUV; Protokoll über das ESZB und die EZB, Art. 10.1) und am Erlass der für die Erfüllung der Aufgaben des ESZB notwendigen Entscheidungen beteiligt. Das ESZB habe als Hauptziel die Wahrung der Preisstabilität. Zu diesem Zweck bestehen die grundlegenden Aufgaben des ESZB u.a. darin, die Geldpolitik der Union festzulegen und auszuführen (Art. 127 Abs. 2 AEUV). Dies erfordere eine enge Zusammenarbeit zwischen der EZB und den nationalen Zentralbanken (Protokoll über das ESZB und die EZB, Art. 9.2). In diesem System haben die nationalen Zentralbanken wie auch ihre Präsidenten einen gemischten Status, da sie zweifellos nationale Behörden darstellen, aber im Rahmen des ESZB tätig werden, das von den nationalen Banken und der EZB gebildet werde.
Der EuGH betont, dass für die Funktionsfähigkeit und ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung des ESZB und des Eurosystems eine enge Zusammenarbeit und ein ständiger Austausch von Informationen zwischen der EZB und den beteiligten nationalen Zentralbanken bestehen muss. Dies bedeute zwangsläufig, dass sich die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zusammenhängenden Dokumente nicht nur im Besitz der EZB befinden, sondern auch im Besitz der nationalen Zentralbanken. Unter diesen Umständen seien solche Dokumente vom Begriff „Archive der EZB“ erfasst, selbst wenn sie sich im Besitz der nationalen Zentralbanken und nicht im Besitz der EZB selbst befinden.
- Zum Verstoß gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB
Im vorliegenden Fall lasse sich ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB nur dann feststellen, wenn zum einen eine von nationalen Behörden einseitig angeordnete Beschlagnahme von Dokumenten, die zu den Archiven der Union gehören, den Tatbestand eines solchen Verstoßes erfüllen könne und zum anderen die beschlagnahmten Dokumente tatsächlich Dokumente umfassten, die als zu den Archiven der EZB gehörig anzusehen seien.
Als Erstes stellt der EuGH fest, dass der Begriff „Unverletzlichkeit“ einen Schutz gegen jeden einseitigen Eingriff der Mitgliedstaaten impliziert. Dies werde dadurch bestätigt, dass dieser Begriff als ein Schutz vor allen Maßnahmen der Durchsuchung, Beschlagnahme, Einziehung oder Enteignung beschrieben werde. Daher sei in der einseitigen Beschlagnahme von Dokumenten, die zu den Archiven der Union gehörten, durch nationale Behörden ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der Union zu sehen.
Als Zweites erinnert der EuGH daran, dass es im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage Sache der Kommission ist, das Vorliegen der behaupteten Vertragsverletzung nachzuweisen. Sie müsse dem EuGH die erforderlichen Anhaltspunkte liefern, die es ihm ermöglichten, das Vorliegen der Vertragsverletzung zu prüfen, ohne dass sie sich dabei auf irgendeine Vermutung stützen könne. Im vorliegenden Fall habe die Kommission eingeräumt, über keine genauen Informationen über die Art der fraglichen, von den slowenischen Behörden beschlagnahmten Dokumente zu verfügen, so dass sie nicht habe feststellen können, ob ein Teil dieser Dokumente als zu den Archiven der Union gehörig anzusehen sei.
In Anbetracht der großen Anzahl der beschlagnahmten Dokumente und der Aufgaben, die der Präsident einer Zentralbank wie der Banka Slovenije im Rahmen des EZB-Rates und über diesen auch im Rahmen des ESZB und des Eurosystems auszuführen habe, sei allerdings erwiesen, dass die von den slowenischen Behörden beschlagnahmten Dokumente zwangsläufig Dokumente umfassten, die zu den Archiven der EZB gehörten. Mit der einseitigen Beschlagnahme dieser Dokumente haben die slowenischen Behörden zudem gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB verstoßen.
In diesem Zusammenhang unterstreicht der EuGH, dass das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen und der Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der Union der Beschlagnahme von Dokumenten seitens einer Behörde eines Mitgliedstaats grundsätzlich entgegenstehen, soweit die Dokumente zu diesen Archiven gehören und die Organe einer solchen Beschlagnahme nicht zugestimmt haben. Die Behörde habe allerdings die Möglichkeit, sich an das betreffende Unionsorgan zu wenden, damit dieses – gegebenenfalls unter Auflagen – den Schutz aufhebe, den die betreffenden Dokumente genießen. Im Fall der Verweigerung des Zugangs könne sie sich an den Unionsrichter wenden, um eine Genehmigungsentscheidung zu erwirken, mit der das Organ verpflichtet werde, Zugang zu seinen Archiven zu gewähren. Darüber hinaus stehe der Schutz der Archive der Union der Beschlagnahme von Dokumenten, die nicht zu den Archiven der Union gehörten, in den Räumlichkeiten einer Zentralbank eines Mitgliedstaats durch nationale Behörden in keiner Weise entgegen.
III. Zum Verstoß gegen die Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit
Mit Verweis auf seine ständige Rechtsprechung zur Tragweite der Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit hat der EuGH festgestellt, dass die Republik Slowenien gegen ihre Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit verstoßen hat, indem sie es der EZB bis zum Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist nicht ermöglicht hat, unter den am 06.07.2016 beschlagnahmten Dokumenten diejenigen Dokumente zu identifizieren, die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zusammenhängen, und indem sie diese Dokumente nicht an die Banka Slovenije zurückgegeben hat. Diese Schlussfolgerung werde nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Staatsanwalt die EZB darum ersuchte, ihm Kriterien vorzuschlagen, mit denen sich die von den slowenischen Behörden beschlagnahmten Dokumente identifizieren lassen, die nach Ansicht der EZB zu ihren Archiven gehören. Die slowenischen Behörden ergriffen nämlich auch nach Eingang dieses Vorschlags keine Maßnahmen, um der EZB die Identifizierung der Dokumente, die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zusammenhängen, zu ermöglichen. Die Behörden waren außerdem dem Ersuchen der EZB nicht nachgekommen, alle Dokumente, die sie für die fraglichen Ermittlungen als nicht relevant einschätzten, an die Banka Slovenije zurückzugeben.
Die Schlussfolgerung, dass die slowenischen Behörden gegen ihre Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit mit der EZB verstoßen haben, werde nicht durch den Umstand in Frage gestellt, dass sie Maßnahmen ergriffen hatten, um die Aufrechterhaltung der Vertraulichkeit der Dokumente sicherzustellen. Für den Zeitraum nach der streitigen Beschlagnahme sei daher festzustellen, dass die slowenischen Behörden gegen ihre Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit mit der EZB verstoßen haben.