Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 10. Mai 2023 zum Aktenzeichen 2 BvR 775/19 entschieden, dass die Versagung von Kindergeld verfassungswidrig ist.
Die Beschwerdeführerin war in dem hier zu beurteilenden Zeitraum kamerunische Staatsangehörige und besaß während dieser Zeit einen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG). Davor hatte sie bereits seit mehr als drei Jahren in der Bundesrepublik Deutschland gelebt und war zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt. Von Juli 2013 bis Mai 2014 bezog sie aufstockende Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). In den Monaten August und Dezember 2013 sowie Januar und Februar 2014 war sie nicht erwerbstätig.
Die Familienkasse hatte zugunsten der Beschwerdeführerin zunächst für den Zeitraum Juli 2013 bis Mai 2014 Kindergeld für ihre 2009 geborene Tochter und den 2012 geborenen Sohn festgesetzt. Nachdem die Familienkasse die Beschwerdeführerin zur Vorlage von Nachweisen im Sinne von § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006 für den Zeitraum Juni 2013 bis Mai 2014 aufgefordert hatte (Ausübung einer Erwerbstätigkeit, Bezug von Geldleistungen nach dem SGB III oder die Inanspruchnahme von Elternzeit), hob sie die Kindergeldfestsetzung mit Bescheid vom 10. Juni 2015 auf und verlangte Rückzahlung des geleisteten Kindergelds für diese Monate.
Aufgrund des hiergegen gerichteten Einspruchs der Beschwerdeführerin erging am 17. August 2015 ein geänderter Bescheid, worin die Familienkasse nun doch Kindergeld für die Monate Juli 2013, September bis November 2013 und März bis Mai 2014 festsetzte und lediglich noch für August 2013 sowie den Zeitraum von Dezember 2013 bis Februar 2014, also für die Monate, in denen die Beschwerdeführerin nicht erwerbstätig war, bewilligtes Kindergeld zurückforderte.
Nachdem der Einspruch im Übrigen durch die Einspruchsentscheidung der Familienkasse vom 17. August 2015 zurückgewiesen worden war, erhob die Beschwerdeführerin Klage. Diese begründete sie damit, dass § 62 Abs. 2 EStG 2006 in Anlehnung an die – den Ausschluss bestimmter ausländischer Staatsangehöriger vom Erziehungs- und Elterngeld betreffende – Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 132, 72 so ausgelegt werden müsse, dass anspruchsberechtigt auch ausländische Staatsangehörige sein müssten, die in Deutschland erwerbstätig sein dürften und von denen – wie bei der Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Aufenthaltsberechtigung – erwartet werden könne, dass sie dauerhaft in Deutschland blieben.
Das Finanzgericht wies die Klage mit Urteil vom 27. Juni 2017 ab, da die Beschwerdeführerin nicht die Voraussetzungen von § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006 erfülle. Die Norm sei auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 132, 72 verfassungsgemäß, da Kindergeld auf Ansprüche auf Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB II angerechnet oder an den Sozialhilfeträger erstattet werde und der betroffene ausländische Staatsangehörige daher durch die Regelung in § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006 im Ergebnis nicht schlechter und damit nicht anders (ungleich) behandelt werde als ein uneingeschränkt zum Kindergeldbezug berechtigter deutscher Staatsangehöriger oder Ausländer mit einer anderen Art von Aufenthaltstitel. Die Revision ließ das Finanzgericht nicht zu.
Mit der von der Beschwerdeführerin im Anschluss eingelegten Nichtzulassungsbeschwerde rügte sie weiterhin die Verfassungswidrigkeit von § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006. Zur Begründung bezog sich die Beschwerdeführerin erneut auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 132, 72 (Erziehungs- und Elterngeld) sowie auf den die Vorschrift des § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006 betreffenden Vorlagebeschluss des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 19. August 2013 – 7 K 9/10 u.a. – (veröffentlicht in juris).
Der Bundesfinanzhof wies die Nichtzulassungsbeschwerde mit Beschluss vom 28. November 2017 als unbegründet zurück.
Die Verfassungsmäßigkeit des § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006 sei vom Bundesfinanzhof bereits mehrfach bejaht worden, und zwar auch für Fälle, in denen sich drittstaatsangehörige Ausländer bereits längere Zeiträume in Deutschland aufhielten. Die von der Beschwerdeführerin zutreffend geltend gemachten möglichen sozialrechtlichen Nachteile drittstaatsangehöriger Ausländer mit einem Aufenthaltstitel im Sinne des § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe c EStG 2006, die im Wechsel einige Monate erwerbstätig und nicht erwerbstätig seien, führten nicht zur Zulassung der Revision wegen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit des § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006. Es handele sich insoweit nicht um ein dieser Vorschrift eigentümliches Problem. Diesen Nachteilen könne unter anderem durch eine frühzeitige Mitteilung an den Sozialleistungsträger über die unterbleibende Erwerbstätigkeit im laufenden oder kommenden Monat entgegengewirkt werden; hierdurch könne sichergestellt werden, dass eine Kürzung der Sozialleistungen um den Kindergeldanspruch unterbleibe. Gegen die von der Beschwerdeführerin angenommene Verfassungswidrigkeit spreche zudem auch, dass in den deutschen Arbeitsmarkt fest integrierten Ausländern mit minderem Aufenthaltstitel durch entsprechende Auslegung des § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006 ein Kindergeldbezug ermöglicht werden könne.
Die genannten Entscheidungen, die der Beschwerdeführerin für die Monate August 2013 und Dezember 2013 bis Februar 2014 Kindergeld versagen, beruhen auf der vom Bundesverfassungsgericht mit Beschluss des Zweiten Senats vom 28. Juni 2022 – 2 BvL 9/14 u.a. – wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG für nichtig erklärten Regelung des § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006. Diese Vorschrift bewirkt eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung zwischen zwei Teilgruppen nicht freizügigkeitsberechtigter ausländischer Staatsangehöriger, die einen humanitären Aufenthaltstitel nach den § 23 Abs. 1, § 23a, § 24 oder § 25 Abs. 3 bis 5 AufenthG besitzen und sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhalten. Nach dieser Norm haben lediglich diejenigen Ausländer einen Anspruch auf Kindergeld, die zusätzlich zu den genannten Tatbestandsmerkmalen entweder im Bundesgebiet berechtigt erwerbstätig sind oder es nur vorübergehend nicht sind, weil sie laufende Geldleistungen nach dem dritten Buch des Sozialgesetzbuchs beziehen oder Elternzeit in Anspruch nehmen (erste Teilgruppe). Demgegenüber erhalten diejenigen ausländischen Staatsangehörigen, die sich zwar seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhalten, aber weder berechtigt erwerbstätig sind noch laufende Leistungen der Arbeitsförderung beziehen oder Elternzeit in Anspruch nehmen (zweite Teilgruppe), kein Kindergeld. In Anbetracht der Nichtigkeit des § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006 darf der Beschwerdeführerin mit einer darauf gestützten Begründung Kindergeld für die Monate, in denen sie nicht erwerbstätig war, nicht verweigert werden.