Das Landesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 04.03.2020 zum Aktenzeichen 3 Sa 218/19 über die Rechtsfolge einer tarifwidrigen Anordnung von Rufbereitschaft bei Ärzten entschieden.
Der Kläger begehrt von der Beklagten für die Rufbereitschaftsdienste die Differenzvergütung zwischen der unstreitig gezahlten tariflichen Rufbereitschaftsvergütung nach § 9 Abs. 1 TV-Ärzte TdL und der geltend gemachten Vergütung für Bereitschaftsdienste im Sinne von § 9 Abs. 2 TV-Ärzte TdL.
Dieser Anspruch folgt nicht aus § 9 Abs. 2 TV-Ärzte TdL, denn es fehlt am Vorliegen der nach dem Tarifvertrag erforderlichen Voraussetzungen für das Vorliegen von Bereitschaftsdiensten im tariflichen Sinne.
Nach der Legaldefinition in § 7 Abs. 4 TV-Ärzte TdL liegt Bereitschaftsdienst vor, wenn der Arzt sich auf Anordnung des Arbeitgebers außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit an einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle aufzuhalten hat. Diese Voraussetzung ist hinsichtlich der streitgegenständlichen Hintergrunddienste des Klägers nicht erfüllt. Die Beklagte hat dem Kläger unstreitig keine ausdrücklichen Vorgaben hinsichtlich seines Aufenthaltsortes während dieser Dienste erteilt.
Auch eine im Ergebnis vergleichbare konkludente räumliche Bindung des Klägers bestand nicht. Zwar kann eine solche nach der Rechtsprechung im Einzelfall anzunehmen sein (vgl. BAG, Urteil vom 31.05.2001 – 6 AZR 171/00, EzA § 242 BGB Gleichbehandlung Nr. 86). Eine wertende Betrachtung der gesamten Umstände führt aber im vorliegenden Fall zum gegenteiligen Ergebnis. Der Kläger macht insoweit geltend, dass er während seiner Bereitschaften rein faktisch in einem Maße ortsgebunden sei, das ihm nicht erlaube in größerem Umfang außerhalb seines Hauses privaten Interessen nachzugehen. Denn die Wahl seines Aufenthaltsorts sei stark durch die engen Zeitvorgaben bestimmt, die bei Eingang eines Organangebots zu berücksichtigen seien. So gingen diese Angebote häufig nachts ein, wenn die Beteiligten schwer zu erreichen seien. Hinzu komme, dass er aufgrund der extrem kurzen Zeitvorgaben die Arbeit sofort aufnehmen müsse. Dabei müsse sichergestellt sein, dass die zu führenden Telefonate nicht von Dritten mitgehört werden könnten. Auch der mitzuführende Ordner schränke seine Bewegungsfreiheit ein, da ständig die Datensicherheit gewährleistet sein müsse. Da er auf mögliche Organspendeangebote innerhalb von 30 Minuten reagieren müsse, sei er in seiner Freizeitgestaltung während der Bereitschaft deutlich eingeschränkt und könne solche nur an nahe zur Klinik gelegenen Orten ausüben. Insgesamt sei er verpflichtet, innerhalb kürzester Zeit die Arbeit, ggf. auch im Klinikum, aufzunehmen.
Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers kommen die faktischen Einschränkungen, die mit der beklagtenseits angeordneten Rufbereitschaft im streitbefangenen Zeitraum verbunden waren, nicht einer ausdrücklichen räumlichen Aufenthaltsvorgabe gleich. Der Kläger muss sich unstreitig nicht an einem bestimmten Ort aufhalten und bleibt grundsätzlich ortsungebunden. Er kann sich – nicht nur im engen räumlichen Umkreis zur Klinik – frei bewegen, solange lediglich eine telefonische Erreichbarkeit sichergestellt ist. Soweit der Kläger die engen zeitlichen Vorgaben anführt, die im Fall eines möglichen Organangebots bestehen, lässt er unberücksichtigt, dass diese Vorgaben allein zeitlicher Natur sind und damit keine räumlichen Beschränkungen verbunden sind. Unstreitig erfolgen die kurzfristig einzuleitenden organisatorischen Maßnahmen in einem solchen Fall telefonisch oder via Internet, ohne dass eine sofortige Anwesenheit des Klägers in der Klinik erforderlich wäre. Die weiteren vom Kläger gerügten allgemeinen – auch räumlichen – Einschränkungen – (z.B. keine Kino- oder Theaterbesuch) spiegeln lediglich die normalen mit jeglicher Form von Bereitschaft verbundenen Einschränkungen wider.
Gleichwohl hat der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung. Dieser folgt aus § 612 Abs. 1 und 2 BGB.
Nach dieser Vorschrift wird in bestimmten Fällen eine Vergütungsregelung fingiert, wenn eine solche zwischen den Parteien nicht vereinbart wurde. Dabei kommt § 612 Abs. 1 BGB nicht nur dann zum Tragen, wenn keine Vergütung vereinbart wurde, sondern die Vorschrift ist auch dann anzuwenden, wenn über die vertraglich geschuldete Tätigkeit hinaus Sonderleistungen erbracht wurden, die durch die vereinbarte Vergütung nicht abgegolten sind, und weder einzelvertraglich noch tarifvertraglich geregelt ist, wie diese Dienste zu vergüten sind (vgl. BAG, Urteil vom 29.01.2003 – 5 AZR 703/01, AP Nr. 66 zu § 612 BGB; BAG, Urteil vom 20.01.2010 – 5 AZR 986/08, AP Nr. 187 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten; ErfK/Preis, 19. Aufl., § 612 BGB Rn. 2).
Zunächst bedarf es insoweit der Klarstellung, dass eine rechtswirksame Anordnung von Rufbereitschaftsdiensten im streitbefangenen Zeitraum nicht vorliegt, da die tariflichen Anforderungen an eine Rufbereitschaft nicht erfüllt sind.
Nach der ausdrücklichen Vorgabe in § 7 Abs. 6 TV-Ärzte TdL darf der Arbeitgeber eine Rufbereitschaft nur anordnen, wenn erfahrungsgemäß lediglich in Ausnahmefällen Arbeit anfällt. Nach dem eigenen Vortrag der Beklagten betrug der Umfang der Heranziehung von Ärzten im Bereich der Nephrologie in der Rufbereitschaft zur Arbeit im Juni 2018 47,4% und im Zeitraum von Mai 2019 bis Juli 2019 sogar 58,02%. Anhaltspunkte für eine mangelnde Repräsentativität dieser Werte sind nicht ersichtlich und werden auch von der Beklagten nicht eingewandt. Dass bei einer Heranziehung zur Arbeit in rund 50% der Bereitschaften nicht von „Ausnahmefällen“ im Tarifsinn gesprochen werden kann, ist offensichtlich. Das ergibt sich letztlich zwingend aus einem Vergleich mit den vom Tarifvertrag an die Anordnung eines Bereitschaftsdienstes geforderten Voraussetzungen. § 7 Abs. 4 TV-Ärzte TdL schreibt insoweit vor, dass selbst Bereitschaftsdienst nur angeordnet werden darf, wenn erfahrungsgemäß die Zeit ohne Arbeitsleistung überwiegt. Betrachtet man die von der Beklagten genannten Heranziehungswerte, erscheint danach selbst die Rechtmäßigkeit einer Anordnung von Bereitschaftsdiensten fraglich. Die Tarifwidrigkeit der angeordneten Rufbereitschaften steht außer Frage und lag damit auch für die Beklagte auf der Hand.
Allein aus der tarifwidrigen Anordnung der Rufbereitschaft folgt nicht deren Umdeutung in Bereitschaftsdienst im Tarifsinn. Das entspricht der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und hiervon ist auch das Arbeitsgericht in der erstinstanzlichen Entscheidung zutreffend ausgegangen (vgl. BAG, Urteil vom 04.08.1988 – 6 AZR 48/86, ZTR 1989, 147; BAG, Urteil vom 31.05.2001 – 6 AZR 171/00, ZTR 2002, 173).
Nach dem Vorgenannten bleibt jedoch festzuhalten, dass die Beklagte gegenüber dem Kläger bewusst tarifwidrige Dienste angeordnet hat. Sie hat den Kläger zu Diensten eingeteilt, die weder die tariflichen Voraussetzungen einer Rufbereitschaft noch diejenigen eines Bereitschaftsdiensts erfüllen. Sie hat damit den Kläger zu Diensten herangezogen, die weder arbeitsvertraglich noch tariflich geregelt sind. Gleichzeitig hat sie vom Kläger aber auch keine „Vollarbeit“ verlangt, da der Kläger während des Hintergrunddienstes nicht zur Erbringung seiner arbeitsvertraglich geschuldeten Tätigkeit, sondern lediglich zur Bereitschaft verpflichtet war, diese auf Abruf in bestimmten Fällen sofort zu erbringen. Für diese Tätigkeit fehlt es aber neben der arbeitsvertraglichen oder tarifvertraglichen Regelung an sich auch an einer entsprechenden Regelung der Vergütung.
In dieser Situation ist der Anwendungsbereich des § 612 Abs. 1 BGB eröffnet, denn die Beklagte verlangt von dem Kläger mit den tarifwidrigen Rufbereitschaften eine insgesamt ungeregelte Bereitschaftsform und damit eine Tätigkeit außerhalb der arbeitsvertraglichen Regelungen. Dass diese Tätigkeit nicht unentgeltlich zu leisten ist, ist zwischen den Parteien nicht im Streit. Wegen der Höhe der Vergütung greift daher § 612 Abs. 2 BGB ein. Nach dieser Vorschrift ist letztlich die übliche Vergütung als vereinbart anzusehen.
Das ist nach Auffassung der erkennenden Kammer im vorliegenden Fall die arbeitsvertraglich vereinbarte Vergütung.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann durch Arbeitsvertrag oder Tarifvertrag für verschiedene Tätigkeiten eine gesonderte Vergütungsregelung getroffen werden. Das gilt insbesondere für unterschiedliche Formen der Arbeit wie Vollarbeit, Bereitschaftsdienst oder Rufbereitschaft (vgl. BAG, Urteil vom 12.12.2012 – 5 AZR 918/11, juris). Eine derartige Vergütungsregelung existiert für die von der Beklagten angeordnete Bereitschaftsform nicht, da es sich hierbei weder um Rufbereitschaft, noch um Bereitschaftsdienst im Tarifsinne handelt und anderweitige kollektive oder individualvertragliche Vereinbarungen über sonstige Bereitschaftsformen nicht existieren. Fehlt es an einer solchen, anderweitigen Vergütungsvereinbarung, bleibt nach Auffassung der erkennenden Kammer nur der Rückgriff auf die existierende arbeitsvertragliche Vergütungsvereinbarung. Insofern entspricht die Rechtslage derjenigen im Bereich der Vergütung von Reisezeiten. Auch hier sind erforderliche Reisezeiten mit der für die eigentliche Tätigkeit vereinbarten Vergütung zu bezahlen, sofern nicht durch Arbeits- oder Tarifvertrag eine gesonderte Vergütungsregelung eingreift (BAG, Urteil vom 17.10.2018 – 5 AZR 553/17, NZA 2019, 159). Dementsprechend ist die von der Beklagten angeordnete tarifwidrige Rufbereitschaft wie Vollarbeit zu vergüten. Auch nach § 612 Abs. 2 BGB bleibt mangels einer üblichen Vergütung für die vorliegende Bereitschaftsform nur dieser Rückgriff. Da der Kläger nur einen Teil dieses Vergütungsanspruchs, nämlich den Prozentsatz von 60 v.H. der Bereitschaftsdienststufe I nach § 9 Abs. 2 TV-Ärzte TdL klageweise geltend macht, ist die Klage im oben genannten Umfang begründet.
Hinsichtlich des geltend gemachten Vergütungsanspruchs hat die Kammer die Klage für einen Monat für unbegründet erachtet, da sie von einem tariflichen Verfall des Anspruchs ausgegangen ist.
Nach § 37 TV-Ärzte TdL verfallen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis, wenn sie nicht innerhalb einer Ausschlussfrist von sechs Monaten nach Fälligkeit schriftlich geltend gemacht werden.
Die Anforderungen, die an eine ordnungsgemäße Geltendmachung zu stellen sind, beurteilen sich maßgeblich Sinn und Zweck der Ausschlussfristen (Küttner/Schmidt, Personalbuch, 26. Aufl., Ausschlussfrist Rn. 32). Danach erfordert eine wirksame Geltendmachung, dass der Anspruch nach Grund und Höhe hinreichend deutlich bezeichnet wird. Er muss so beschrieben werden, dass der Schuldner erkennen kann, aus welchem Sachverhalt er in Anspruch genommen wird (BAG, Urteil vom 14.12.2006 – 8 AZR 628/05, NZA 2007, 262). Das verlangt Spezifizierung, aber keine Substantiierung (BAG, Urteil vom 11.12.2003 – 6 AZR 539/02, AP Nr. 1 zu § 63 BMT-G II). Außerdem muss deutlich werden, dass man Inhaber einer bestimmten Forderung ist und auf deren Erfüllung besteht (BAG, Urteil vom 17.05.2001 – 8 AZR 366/00, NZA 2002, 910).