Das Bundessozialgericht hat am 20.05.2020 zum Aktenzeichen B 13 R 9/19 R einem in der NS-Zeit verfolgten Juden einen Anspruch auf eine Altersrente von der Deutschen Rentenversicherung unter Berücksichtigung von „Ghetto-Beitragszeiten“ zugesprochen.
Aus der Pressemitteilung des BSG Nr. 9/2020 vom 20.05.2020 ergibt sich:
Der Kläger war in der Zeit des Nationalsozialismus als Jude verfolgt worden und ging im sog. Generalgouvernement von seinem angestammten Wohnhaus aus einer Beschäftigung nach, indem er, nach den für das BSG bindenden Feststellungen des Landessozialgerichts, im Zeitraum von Januar 1940 bis März 1942 Reinigungsarbeiten gegen Entgelt im Sinne des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen im Ghetto (ZRBG) – hier Extraportionen Essen – durchführte.
Das BSG hat dem Kläger einen Anspruch auf eine Altersrente von der Deutschen Rentenversicherung unter Berücksichtigung von „Ghetto-Beitragszeiten“ zugesprochen.
Nach Auffassung des BSG sind die Bedingungen, unter denen dies erfolgte, denen eines zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto i.S.d. § 1 Absatz 1 Satz 1 ZRBG zumindest im Wege der Analogie gleichzustellen. Das Erfordernis der Gleichstellung folge aus den neueren historischen Erkenntnissen über die Erscheinungsformen von „Ghettos“ im nationalsozialistischen Einflussbereich, die der Gesetzgeber bei der Schaffung des ZRBG noch nicht umfassend in den Blick nehmen konnte. Nur durch ihre Berücksichtigung könne jedoch der gewollte entschädigungsrechtliche Ausgleich innerhalb des Rentenversicherungsrechts hinreichend verwirklicht werden, so dass von einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes auszugehen sei. Was unter einem Ghetto zu verstehen ist, sei weder im ZRBG noch in weiteren in diesem Kontext zu betrachtenden Normen definiert. Es finde sich auch kein ausreichend verfestigter und konkretisierter juristischer Sprachgebrauch. Gleiches gelte für das allgemeine Begriffsverständnis. Selbst die für die beiden größten Holocaustforschungsstätten – Yad Vashem und US Holocaust Memorial Museum – tätigen Historiker verwendeten keine einheitliche Definition des Begriffs.
Die Normhistorie des ZRBG lege nahe, dass den Abgeordneten im Wesentlichen das „geschlossene Ghetto“ vor Augen stand. Denn der Gesetzesbeschluss 2002 sei eine unmittelbare Reaktion auf die Rechtsprechung des BSG zu „Ghetto-Beitragszeiten“, insbesondere im „geschlossenen“ „Ghetto Lodz“. Eine Festlegung auf einen bestimmten Ghetto-Begriff, der einem weiten Verständnis hiervon und der Annahme einer planwidrigen Lücke entgegenstehen könnte, sei hiermit aber ebenso wenig verbunden, wie mit der Änderung des ZRBG 2014. Allerdings seien Geschichtswissenschaftler in den Jahren nach der Verabschiedung des ZRBG zu der Erkenntnis gelangt, dass Ghettos im nationalsozialistischen Einflussbereich unterschiedlichste Ausprägungen und Erscheinungsformen hatten. Bei den meisten der bekannten über 1400 „Ghettos“ handele es sich um sog. „offene Ghettos“, zum Teil ohne klar abgrenzbare Strukturen. Vor dem Hintergrund der mit dem ZRBG bewirkten entschädigungsrechtlichen Überlagerung des Rentenversicherungsrechts könne allein mit einem weiten Begriffsverständnis den historisch belegten unterschiedlichen Erscheinungsformen von Ghettos – wie sie auch in der Praxis der Rentenversicherungsträger berücksichtigt werden – hinreichend Rechnung getragen werden. Die entschädigungsrechtliche Überlagerung verlange zudem vergleichbare Zwangslagen ebenfalls zu erfassen. Nur so könne es mit dem ZRBG gelingen, das verursachte Unrecht durch die Begründung und Zahlbarmachung von Rentenansprüchen in der gesetzlichen Rentenversicherung zu entschädigen.
Dieses Unrecht bestehe darin, dass keine Rentenanwartschaften entstanden, obwohl die verrichteten „Ghetto-Arbeiten“ unter anderen Umständen im Rahmen von rentenversicherungspflichtigen Beschäftigungen geleistet worden wären und dann in aller Regel Rentenanwartschaften begründet hätten. Das ZRBG als „neuartiger Bestandteil des Rechts der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“ wolle einen Ausgleich hierfür schaffen und sei damit trotz seiner Verankerung im Rentenrecht materiell-rechtlich als eine dieses überformende Entschädigungsregelung zu betrachten. Deshalb seien bei dessen Anwendung die in der Rechtsprechung des BSG für das Entschädigungsrecht entwickelten Auslegungsgrundsätze zu beachten. Es dürfe eine eben noch mögliche Lösung gewählt werden – und ihr gebührt der Vorzug –, die dazu führt, das verursachte Unrecht soweit wie möglich auszugleichen.
Dies erlaube die nach dem Gesetzeszweck gebotene Gleichstellung von Zwangslagen, die sich an den Besonderheiten der vom ZRBG in den Blick genommenen Situationen ausrichte. Diese seien dadurch geprägt, dass die Verfolgten im Prozess zunehmend verstärkter Terrormaßnahmen in ihrem räumlichen Lebensbereich einem Aufenthaltszwang unterlagen, der es gleichwohl zulasse, eine von ihnen ausgeübte Tätigkeit noch als freiwillige Beschäftigung zu qualifizieren. Nach dem Feststellungen des Landessozialgerichts habe der Kläger einem derart intensiven Aufenthaltszwang unterlegen.