Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat mit Beschluss vom 07.03.2019 zum Aktenzeichen Vf. 15-VII-18 entschieden, dass die umstrittene Verschärfung des bayerischen Polizeiaufgabengesetz (PAG) vorerst unverändert weitergelten.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Änderungen durch die Gesetze zur effektiveren Überwachung gefährlicher Personen vom 24.07.2017 sowie zur Neuordnung des bayerischen Polizeirechts vom 18.05.2018 bleibt danach erfolglos (Az.: Vf. 15-VII-18).
Gegenstand des Popularklageverfahrens ist vor allem die Frage, ob die Einführung des Begriffs der sogenannten drohenden Gefahr die Bayerische Verfassung verletzt. Diese neue Gefahrenkategorie ist zum einen als Legaldefinition und Voraussetzung für (atypische) polizeiliche Eingriffsmaßnahmen in der allgemeinen Generalklausel des Art. 11 Abs. 3 PAG enthalten; zum anderen stützen sich hierauf bestimmte neu geschaffene Spezialbefugnisse insbesondere zur Identifizierung, Aufenthaltsbestimmung und Überwachung von Personen. Auf dieser Grundlage werden polizeiliche Eingriffe in Grundrechte der Betroffenen bereits vor der Entstehung einer (konkreten) Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung zugelassen.
Ein weiterer wesentlicher Angriffspunkt der Popularklage betrifft die Ergänzungen der polizeilichen Befugnis zur präventiven Ingewahrsamnahme von Personen um zusätzliche Tatbestandsalternativen und die Anhebung der bisherigen Höchstdauer des polizeilichen Präventivgewahrsams von 14 Tagen auf drei Monate mit einer Verlängerungsmöglichkeit um jeweils drei weitere Monate.
Die Antragsteller sind der Auffassung, die umfangreichen Änderungsbestimmungen verletzten das Gebot der Normenklarheit. Durch die Ausdehnung der polizeirechtlichen Generalklausel in Art. 11 Abs. 3 PAG würden aufgrund der Vorverlegung der zulässigen Eingriffsschwelle die Freiheitsgrundrechte der Bürger besonders gravierend beeinträchtigt. Auch alle angegriffenen Spezialbefugnisnormen des Polizeiaufgabengesetzes, in die der Begriff der drohenden Gefahr eingefügt worden sei, ermöglichten unverhältnismäßige Eingriffe und verstießen daher gegen die Bayerische Verfassung.
Die drastische Ausdehnung der möglichen Dauer des Unterbindungsgewahrsams ohne Nachweis einer konkreten Gefahr habe keinen präventiven, sondern strafrechtlichen Charakter; hierfür fehle dem Landesgesetzgeber bereits die Gesetzgebungskompetenz. Die Antragsteller beantragen, durch eine einstweilige Anordnung zur Abwehr schwerer Nachteile für die Betroffenen vorläufig den Vollzug zahlreicher Bestimmungen des Polizeiaufgabengesetzes bis zur Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs in der Hauptsache auszusetzen.
Nach Auffassung des Bayerischen Landtags und der Bayerischen Staatsregierung ist die Popularklage unbegründet. Von einer offensichtlichen Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Normen könne keine Rede sein. Im Hinblick auf den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sei daher eine Folgenabwägung vorzunehmen. Hierbei überwiege das Interesse am Vollzug der angegriffenen Normen. Andernfalls müsste die mit der Novellierung des Polizeiaufgabengesetzes angestrebte Abwehr von Gefahren für hochrangige Rechtsgüter wie Leib und Leben unterbleiben, was zu irreparablen Beeinträchtigungen dieser Rechtsgüter führen könnte.
Der VerfGH hat es abgelehnt, die mit der Popularklage angegriffenen Regelungen des Polizeiaufgabengesetzes durch einstweilige Anordnung vorläufig außer Vollzug zu setzen. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung komme im Hinblick auf eine Reihe von Rügen schon deswegen nicht in Betracht, weil die Popularklage nach überschlägiger Prüfung insofern offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg habe. Dies gelte beispielsweise, soweit die Antragsteller geltend machten, sämtliche angegriffenen Änderungsbestimmungen zum Polizeiaufgabengesetz seien wegen eines Verstoßes gegen das Gebot der Normenklarheit verfassungswidrig, weil nach dem Inkrafttreten beider Gesetzesnovellierungen keine konsolidierte, für den Bürger klar lesbare Fassung des Polizeiaufgabengesetzes im Bayerischen Gesetz- und Verordnungsblatt bekannt gemacht worden sei. Bei dieser und bei weiteren Rügen fehle es unter anderem an der Darlegung einer Grundrechtsverletzung. Teilweise würden auch Beanstandungen wiederholt, die der VerfGH bereits in einer früheren Entscheidung für nicht durchgreifend erachtet habe.
Im Hinblick auf einige Bestimmungen hat der VerfGH die Erfolgsaussichten der Popularklage allerdings als offen angesehen, so im Hinblick auf die Regelung zur drohenden Gefahr in Art. 11 Abs. 3 PAG und weitere Befugnisnormen, die den Begriff der drohenden Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut verwenden oder hierauf Bezug nehmen, insbesondere die Ingewahrsamnahme in den Fällen des Art. 17 Abs. 1 Nrn. 4 und 5 PAG sowie im Hinblick auf die Regelung zur Dauer des polizeilichen Präventivgewahrsams in Art. 20 Nr. 3 Satz 3 PAG.
Insoweit seien die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Popularklage aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Popularklage aber der Erfolg zu versagen wäre. Bei dieser Abwägung müssten die für eine vorläufige Regelung sprechenden Gründe so gewichtig sein, dass sie im Interesse der Allgemeinheit eine einstweilige Anordnung zur Abwehr schwerer Nachteile unabweisbar machen. Das sei hier nicht der Fall.
Die Abwägung ergebe, dass die Nachteile der Betroffenen, die durch den Vollzug der angegriffenen Vorschriften drohen, hinter dem öffentlichen Interesse am sofortigen Normvollzug zurückstehen müssten. Denn das Interesse der Allgemeinheit, möglichst frühzeitig vor schwerwiegenden Rechtsgutverletzungen bewahrt zu werden, wiege angesichts des Gewichts der zu schützenden Rechtsgüter, wie Leib, Leben und Gesundheit, bedeutend schwerer als die Nachteile der von den Grundrechtsbeeinträchtigungen betroffenen Personen.
Dabei werde nicht verkannt, dass vor allem Freiheitsentziehungen für die Betroffenen äußerst schwerwiegende Grundrechtseingriffe beinhalten. Bei der Beurteilung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Befugnissen und Maßnahmen, die der Gefahrenabwehr dienen, komme es entscheidend darauf an, welches Gewicht die zu schützenden Rechtsgüter haben. Je gravierender in grundrechtlich geschützte Positionen der Betroffenen eingegriffen werden kann, umso gewichtiger müssten diese Schutzinteressen sein. Als Grundlage tiefgreifender Maßnahmen würden grundsätzlich nur besonders gewichtige Rechtsgüter, wie Leib, Leben und Freiheit der Person, sowie der Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes in Betracht kommen; nicht ausreichend gewichtig könne insoweit ein uneingeschränkter Sachwertschutz sein.
Vorliegend sei der Sachwertschutz in Art. 11 Abs. 3 PAG aber zum einen auf erhebliche Eigentumspositionen beschränkt, sodass die dargestellten verfassungsrechtlichen Gesichtspunkte im Rahmen des Gesetzesvollzugs Berücksichtigung finden könnten. Zum anderen dürften nach Auffassung des VerfGH in der Praxis im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz tief greifende Beeinträchtigungen von Grundrechten ausschließlich zum Schutz von Sachwerten ohnehin kaum in Betracht kommen. Vor diesem Hintergrund sei der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht geboten. Ob die angegriffenen Regelungen des Polizeiaufgabengesetzes verfassungsrechtlich zu beanstanden sind, sei damit nicht entschieden worden, betont der VerfGH. Die Beurteilung dieser Frage bleibe der Entscheidung über die Hauptsache vorbehalten.
Rechtsanwalt Dipl.-Jur. Jens Usebach, LL.M. bearbeitet im Schwerpunkt das Polizeirecht und Verfassungsrecht.