Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin hat mit Urteil vom 16.11.2022 zum Aktenzeichen 154/21 die Wahlen zum 19. Berliner Abgeordnetenhaus und zu den zwölf Berliner Bezirksverordnetenversammlungen (BVVen) vom 26. September 2021 insgesamt für ungültig erklärt. Die Entscheidung erging in dem Wahlprüfungsverfahren über die Einsprüche der Landeswahlleitung, der Senatsverwaltung für Inneres, Digitalisierung und Sport sowie der politischen Parteien AfD und Die PARTEI. Die Einsprechenden hatten die Wahlen jeweils teilweise – in unterschiedlichem Umfang – angefochten.
Aus der Pressemitteilung des VerfGH Berlin vom 16.11.2022 ergibt sich:
Nach umfassender Auswertung aller 2.256 Protokolle aus sämtlichen Berliner Wahllokalen, der von der Landeswahlleitung zur Verfügung gestellten Daten sowie Prüfung der rund hundert Schriftsätze der insgesamt über 3.000 Verfahrensbeteiligten ist der Verfassungsgerichtshof zu der Überzeugung gelangt, dass verfassungsrechtliche Standards nur durch die komplette Ungültigkeitserklärung der Berliner Wahlen gewährleistet werden können. Schon die Vorbereitung der Wahlen stellt für sich genommen einen Wahlfehler dar, der weitere erhebliche Wahlfehler nach sich gezogen hat. Damit ist in mehrfacher Hinsicht gegen die in der Berliner Verfassung niedergelegten Wahlgrundsätze verstoßen worden. Die Wahlfehler sind mandatsrelevant. Eine nur punktuelle Wahlwiederholung in einzelnen Wahlkreisen wäre angesichts der Vielzahl und Schwere der Wahlfehler nicht geeignet, einen verfassungsgemäßen Zustand herzustellen.
Gemäß § 21 Abs. 1 Landeswahlgesetz (LWahlG) müssen die Wahlen nun in ganz Berlin wiederholt werden. § 21 Abs. 3 S. 1 LWahlG sieht hierfür eine Frist von 90 Tagen vor. Die Wahlen zum Bundestag in Berlin sind davon nicht betroffen. Hierüber wird auf Bundesebene in einem eigenen, gesondert geregelten Verfahren entschieden.
Zu den wesentlichen Punkten der Entscheidung im Einzelnen:
Schon die Vorbereitung der Wahlen haben den in den Landeswahlvorschriften niedergelegten Anforderungen nicht genügt und Auswirkungen auf das gesamte Wahlgeschehen gehabt. Sie stellen für sich genommen bereits einen Wahlfehler dar. Diese Vorbereitungsmängel waren die Ursache dafür, dass es am Wahltag zu weiteren Wahlfehlern gekommen ist.
Beispiel: Die von der Landeswahlleitung angestellten Prognosen zur Dauer der Wahlhandlung (drei Minuten) haben bei der tatsächlich zur Verfügung stehenden Anzahl von Wahlkabinen (durchschnittlich 2,36 pro Wahllokal) gemessen an der gesetzlich vorgeschriebenen Wahlzeit (von 8 bis 18 Uhr) rechnerisch dazu geführt, dass pro Wahllokal lediglich 472 Per-sonen in Präsenz wählen konnten. Bei einer angesichts von insgesamt sechs abzugebenden Stimmen auf fünf Stimmzetteln weitaus realistischeren zeitlichen Prognose von fünf Minuten hätten durchschnittlich sogar nur 283 Wahlberechtigte in einem Wahllokal ihre Stimme abgeben können. Tatsächlich waren am 26. September 2021 jedoch in jedem Wahllokal durchschnittlich 1.085 Personen wahlberechtigt (in Pankow sogar durchschnittlich 1.312 Personen). Angesichts dieser hohen Zahl der Wahlberechtigten pro Wahllokal war eine ordnungsgemäße Wahl nicht mehr gewährleistet. Denn schon nach der unrealistischen, weil angesichts der Komplexität der Wahlen zu kurz bemessenen Prognose der Landeswahlleitung hätten damit nur 40 Prozent der Wahlberechtigten die realisierbare Möglichkeit gehabt, zur Urne zu gehen. Unter Zugrundelegung einer realistischeren zeitlichen Prognose hatten also sogar weit weniger Wahlberechtigte die Möglichkeit, ihre Stimme im Wahllokal abzugeben, nämlich nur 26 Prozent. Auf die Wahl in Präsenz hat aber jede und jeder Wahlberechtigte einen verfassungsmäßigen Anspruch.
Weiteres Beispiel: Obwohl im Vorfeld des 26. September 2021 bekannt geworden war, dass im Zuge des Druckprozesses Stimmzettel vertauscht worden waren, kam es nicht in allen Bezirken zu einer Überprüfung. Dies führte dazu, dass am Wahltag in mindestens fünf von zwölf Bezirken falsche Stimmzettel, d.h. für einen anderen Wahlkreisverband bzw. Wahlkreis vorgesehene Stimmzettel, ausgegeben wurden. Die auf falschen Stimmzetteln abgegebenen Stimmen sind ungültig. Faktisch sind die betroffenen Wählerinnen und Wähler damit von der Wahl ausgeschlossen worden.
Weiteres Beispiel: Einige Bezirkswahlämter haben entgegen § 42 Landeswahlordnung (LWO) den Wahlvorständen vorab nicht alle benötigten Stimmzettel ausgehändigt, so dass die betroffenen Wahllokale unterversorgt waren. Bei der Nachbelieferung kam es zu erheblichen Verzögerungen. Einige Wahllokale haben daraufhin zwischenzeitlich geschlossen, ohne dass für die wahlwilligen Wartenden erkennbar gewesen wäre, wann mit einer erneuten Öffnung zu rechnen sei. In anderen Wahlkreisen wurden Kopien von Stimmzetteln angefertigt. Diese sind als ungültig zu werten, da sie nicht den gesetzlichen Bestimmungen entsprechen; die betroffenen Bezirkswahlämter konnten noch nicht einmal Angaben zur Anzahl der ausgehändigten Kopien machen.
Auch die dokumentierten, oft stundenlangen Wartezeiten vor den Wahllokalen und die aufgrund der zur Verfügung stehenden Zahlen errechneten gesetzeswidrigen Schließungen von Wahllokalen während der Wahlzeit (insgesamt 6.294 Minuten) sowie die ebenfalls exakt bezifferbare flächendeckende Öffnung der Wahllokale über 18 Uhr hinaus (insgesamt 21.941 Minuten) sind Folge dieser mangelhaften Vorbereitung gewesen. Der Um-stand etwa, dass flächendeckend noch nach 18 Uhr gewählt wurde, obwohl zu diesem Zeitpunkt schon erste Prognosen auf Grundlage von Nachwahlbefragungen veröffentlicht worden waren und sich ein „Kopf-an-Kopf-Rennen“ abzeichnete, verletzt die betroffenen wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger in ihren verfassungsrechtlich garantierten Rechten zur Teilnahme am demokratischen Willensbildungsprozess.
Aufgrund der zur Verfügung stehenden Daten steht damit fest, dass nicht nur einzelne, sondern tausende Wahlberechtigte am Wahltag in Berlin ihre Stimme nicht, nicht wirksam, nur unter unzumutbaren Bedingungen oder nicht unbeeinflusst abgeben konnten.
Damit sind die in der Verfassung des Landes Berlin festgelegten Grundsätze der Freiheit, der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl verletzt.
Diese schwerwiegenden Wahlfehler sind auch mandatsrelevant. Mandatsrelevanz liegt vor, wenn die konkrete Möglichkeit besteht, dass sich die festgestellten Wahlfehler auf die Sitzverteilung ausgewirkt haben könnten. Davon ist vorliegend auszugehen. Zwar ist die Gesamtanzahl der von Wahlfehlern betroffenen Stimmen nicht mathematisch präzise zu ermitteln. So ist es etwa unmöglich herauszufinden, wie viele Wahlberechtigte infolge der langen Warteschlangen und Unterbrechungen nicht gewählt haben, weil sie angesichts der Aussichtslosigkeit der Stimmabgabe wieder nach Hause gegangen sind. Die von Wahlfehlern betroffenen Stimmen lassen sich aber näherungsweise ermitteln, indem man die Anzahl der dokumentierten Wahlfehler zusammenzählt: die nachweislich nicht ausgegebenen Stimmzettel (3.910 Stimmzettel für die Erststimme und 1.546 Stimmzettel für die Zweitstimme), die falschen Stimmzettel (1.939 Stimmzettel für die Erststimme und 2.063 Stimmzettel für die Zweitstimme), die kopierten und damit als ungültig zu wertenden Stimmzettel (laut Aussagen des betroffenen Bezirkswahlamtes Friedrichshain-Kreuzberg „mehrere tausend“), die Dauer der Unterbrechungen der Wahlhandlungen (6.294 Minuten) und die Gesamtdauer der nach 18 Uhr geöffneten Wahllokale (21.941 Minuten). Daraus ergibt sich, dass mindestens 20.000 bis 30.000 Stimmen von Wahlfehlern betroffen sind. Die Ungewiss-heit, wie sich diese 20.000 bis 30.000 Stimmen bei einem ordnungsgemäßen Wahlablauf verteilt haben könnten, führt nach Überzeugung des Verfassungsgerichtshofes zu einer Vielzahl von Möglichkeiten, wie sie die Sitzverteilung beeinflusst haben könnten. Denn anders als zum Teil von Verfahrensbeteiligten vorgetragen, erfordert die Feststellung der Mandatsrelevanz nach § 40 Abs. 2 Nr. 8 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof (VerfGHG) keinen Einfluss auf die Mehrheitsverhältnisse, sondern einen Einfluss auf die Sitzverteilung. In einigen Wahlkreisen hätten schon dreistellige Zahlen anders abgegebener Stimmen ausgereicht, um die Sitzverteilung zu verändern.
Die auf der Rechtsfolgenseite zu treffende Abwägung zwischen dem Bestandsinteresse eines einmal gewählten Parlaments und dem Korrekturinteresse auf der anderen Seite führt nach Überzeugung des Verfassungsgerichtshofes zu einem Überwiegen des Korrekturinteresses. Denn nur so kann das verfassungsrechtlich garantierte Wahlrecht der wahlberechtigten Berlinerinnen und Berliner und damit auch die rechtmäßige Zusammensetzung des von ihnen gewählten Parlaments garantiert werden. Hierbei hat der Verfassungsgerichtshof insbesondere auch berücksichtigt, dass die Wahlfehler nicht durch unvorhergesehene Umstände wie etwa eine Naturkatastrophe oder eine Sabotage bedingt gewesen sind. Vielmehr haben sie ihre Ursache nach den getroffenen Feststellungen in einem Organisationsverschulden der für die Wahlen zuständigen Behörden des Landes Berlin. Zwar unterscheidet sich der Umfang potentiell betroffener Zweitstimmen in den Wahlkreisen und Wahlkreisverbänden teilweise erheblich. Im Hinblick auf die Ermittlung der Sitzverteilung nach den §§ 17 bis 19 LWahlG sowie die Kombination von Bezirks- und Landeslisten können die Stimmabgaben bezüglich der Zweitstimme in den unterschiedlichen Wahlkreisverbänden jedoch nicht losgelöst voneinander betrachtet werden.
Die Wahl ist im gesamten Wahlgebiet für ungültig zu erklären. Dafür spricht u.a., dass nach den ermittelten Zahlen alle Zweitstimmen, d. h. derzeit 69 Sitze im Abgeordnetenhaus, so*wie ein substantieller Teil der Erststimmen, d. h. mindestens weitere 19 Sitze, und damit insgesamt 88 von 147 Sitzen – rund 60 Prozent – von mandatsrelevanten Wahlfehlern betroffen sind.
Eine nur punktuelle Wiederholungswahl widerspräche dem verfassungsrechtlichen Grundsatz, dass das Gesamtergebnis einer Wahl eine einheitliche Momentaufnahme des Volkswillens zu einem bestimmten Zeitpunkt darstellen soll. Das Gesamtergebnis der Wahl verlöre seinen Charakter als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes. Ferner würde eine teilweise Wiederholung der Wahl zu einer unangemessen großen Gestaltungsmacht einer Minderheit der Wahlberechtigten führen, denn diese Wählenden könnten ihre Wahlentscheidung an den politischen Geschehnissen seit der Wahl vollständig neu ausrichten.
Wegen des sog. Koppelungsgebots sind die Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen ebenfalls für ungültig zu erklären. Hierfür sprechen im vorliegenden Fall einer kompletten Ungültigerklärung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus schon der Wortlaut des Art. 70 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung von Berlin (VvB). Danach werden die Bezirksverordnetenversammlungen in allgemeiner, gleicher, geheimer und direkter Wahl zur gleichen Zeit wie das Abgeordnetenhaus gewählt. Die Koppelung trägt u.a. dem Grundsatz einer Einheitsgemeinde, wie sie in Art. 1 Abs. 1 VvB vorgesehen ist, Rechnung. Die Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen sollen damit keinen eigenständigen Charakter erlangen.
Die Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes machte in ihrer heutigen mündlichen Urteilsbegründung deutlich, dass sich der Verfassungsgerichtshof der Tragweite der Entscheidung durchaus bewusst sei. Es sei jedoch zu berücksichtigen, dass es sich um einen einmaligen Vorgang in der Geschichte der Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland handele. Nur durch die vollständige Wiederholung der Wahl könne eine Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses und der Bezirksverordnetenversammlungen gewährleistet werden, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen an demokratische Wahlen entspreche.
Die Entscheidung ist mit einer Mehrheit von 7 zu 2 Stimmen getroffen worden.
Das Gesetz über den Verfassungsgerichtshof sieht – anders als das zweistufig ausgestaltete Wahlprüfungsverfahren auf Bundesebene – gegen diese Entscheidung kein reguläres Rechtsmittel vor. Unabhängig davon hätten etwaige außerordentliche Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung.
Alle bis zur Verkündung der Ungültigkeit erlassenen Rechtsakte des Abgeordnetenhauses bleiben nach dem heutigen Urteilsspruch wirksam. Wie im Falle regulärer Wahlen sind Parlament und Regierung bis zum Abschluss der (Wiederholungs-)Wahl berechtigt, zur Sicherstellung der Kontinuität staatlichen Handelns ihre jeweiligen Aufgaben wahrzunehme