Das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern hat am 19.08.2021 zum Aktenzeichen LVerfG 2/19, LVerfG 3/19 und LVerfG 1/20 den kommunalen Verfassungsbeschwerden gegen die Landesgesetze zur Ausführung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) zum Teil stattgegeben.
Aus der Pressemitteilung des LVerfG MV vom 19.08.2021 ergibt sich:
Das Landesverfassungsgericht hat § 19a Abs. 1, zweiter Spiegelstrich Landesausführungsgesetz SGB XII – AG SGB XII M-V und § 15 Abs. 1 Landesausführungsgesetz SGB IX – AG SGB IX M-V für unvereinbar mit Art. 72 Abs. 3 Satz 2 Landesverfassung M-V (LV) erklärt und dem Landesgesetzgeber aufgegeben, bis zum 31.12.2022 für den vollen Geltungszeitraum, auch rückwirkend, eine Neuregelung zu treffen. Bis dahin sind die Vorschriften weiter anwendbar.
Mit dem Bundesteilhabegesetz vom 23.12.2016 soll die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft für Menschen mit Behinderungen durch neugeordnete Leistungen zur Eingliederungshilfe verbessert werden. Die Eingliederungshilfen werden nun von der Sozialhilfe getrennt und stärker individualisiert gewährt. Diese Änderungen im Recht der Eingliederungshilfen sind am 01.01.2020 in Kraft getreten. Mit Gesetz vom 27.01.2018 hat der Landesgesetzgeber die Landkreise und kreisfreien Städte als Träger der Eingliederungshilfe im Sinne des Bundesteilhabegesetzes bestimmt. Mit dem Gesetz zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes vom 16.12.2019 (in Kraft ab dem 01.01.2020) hat das Land unter anderem geregelt, dass den Eingliederungshilfeträgern anteilig die Jahresnettoauszahlungen für die Leistungen selbst erstattet werden. Zudem hat der Landesgesetzgeber in seinen Ausführungsgesetzen zum Neunten und zum Zwölften Sozialgesetzbuch pauschale Ausgleichsbeträge für die Mehrbelastungen in Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes festgesetzt.
Die Beschwerdeführer – zwei kreisfreie Städte und ein Landkreis – machen mit ihren Verfassungsbeschwerden die Verletzung des Konnexitätsprinzips nach Art. 72 Abs. 3 LV geltend. Danach können die Gemeinden und Kreise durch Gesetz zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben verpflichtet werden, wenn dabei gleichzeitig Bestimmungen über die Deckung der Kosten getroffen werden. Führt die Erfüllung dieser Aufgaben zu einer Mehrbelastung der Gemeinden und Kreise, so ist dafür ein entsprechender Ausgleich zu schaffen.
Das Landesverfassungsgericht hat die drei Verfassungsbeschwerden zu einem Verfahren verbunden. In seiner Entscheidung vom 19.08.2021 (LVerfG 2/19, LVerfG 3/19, LVerfG 1/20) hat das Gericht zunächst festgestellt, dass die Verfassungsbeschwerden mit Blick auf die jeweils individuell darzulegende Beschwerdebefugnis zum Teil unzulässig sind.
Soweit die Verfassungsbeschwerden zulässig sind, haben sie allerdings in der Sache weitgehend Erfolg. Damit ist jedoch nicht die Aussage des Landesverfassungsgerichts verbunden, dass die vorgesehenen Ausgleichsbeträge in der Höhe nicht ausreichend seien.
Um die Mehrbelastungen durch Aufgabenübertragung zu ermitteln, bedarf es einer von dem Gesetzgeber durchzuführenden Prognose. Die Kostenprognose verlangt eine auf vernünftigen Erwägungen beruhende Schätzung, für die der Gesetzgeber über einen Prognosespielraum verfügt. Eine grobe Schätzung der zukünftigen Mehrbelastung genügt nicht. Erforderlich ist eine gründliche gesetzgeberische Befassung mit den tatsächlichen Grundlagen der Prognoseentscheidung unter Ausschöpfung der zugänglichen Erkenntnisquellen bei Berücksichtigung der Verhältnisse vor Ort. Dies setzt voraus, dass der Gesetzgeber die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen situationsgerecht ausgeschöpft und die voraussichtlichen Auswirkungen der Regelung so zuverlässig wie möglich abgeschätzt hat.
Eine solche tragfähige Prognose hat der Landesgesetzgeber aber für den auszugleichenden erhöhten Verwaltungsaufwand des Jahres 2019 (§ 19a Abs. 1, zweiter Spiegelstrich AG SGB XII M-V) und für den Ausgleich der Mehrbelastungen ab 2020 (§ 15 Abs. 1 AG SGB IX M-V) nicht angestellt. Den im Gesetzgebungsverfahren genannten Annahmen zum Personalschlüssel sowie zu Anzahl und Kosten zusätzlich erforderlicher Stellen fehlt es an einer faktenbasierten und nachvollziehbaren Begründung. Deshalb kann das Landesverfassungsgericht nicht feststellen, ob mit den in den Vorschriften bestimmten Gesamtbeträgen der nach Art. 72 Abs. 3 Satz 2 LV notwendige entsprechende finanzielle Ausgleich für die mit der Aufgabenübertragung verbundenen Mehrbelastungen geschaffen ist.