Das Bundesverwaltungsgericht hat am 18.11.2020 zum Aktenzeichen 2 BvR 477/17 eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen die zivilgerichtliche Versagung von Amtshaftungsansprüchen gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen eines von einem Oberst der Bundeswehr angeordneten Luftangriffes in Kunduz (Afghanistan), bei dem auch zahlreiche Zivilisten getötet oder verletzt worden, richtete.
Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 106/2020 vom 16.12.2020 ergibt sich:
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes in Afghanistan richtete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit der Resolution vom 20.12.2001 eine internationale Sicherheitsunterstützungstruppe (International Security Assistance Force – ISAF) ein. Der Deutsche Bundestag beschloss am 22.12.2001 die Beteiligung deutscher Streitkräfte an den ISAF-Truppen.
Am 03.09.2009 bemächtigte sich eine Gruppe von Taliban-Kämpfern zweier Tanklastwagen in Kunduz. Als der zuständige Oberst i.G. die Information über die Entführung der Tanklastwagen erhielt, forderte er Luftunterstützung durch zwei US-amerikanische Kampfflugzeuge an. Ihm wurde durch einen Informanten des Militärs mehrfach bestätigt, dass sich bei den Lastwagen lediglich Aufständische und keine Zivilisten befänden, worauf er den Befehl zum Bombenabwurf gab. Hierdurch wurden beide Tanklastwagen zerstört sowie zahlreiche Personen, darunter auch Zivilisten, getötet oder verletzt.
Die Beschwerdeführer erhoben Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland und begehrten als Angehörige von getöteten Opfern Schmerzensgeld und Schadensersatz. Der BGH wies die Revision der Beschwerdeführer insbesondere mit der Begründung zurück, dass sich aus dem Völkerrecht ein individueller Schadensersatzanspruch nicht ableiten lasse und das deutsche Amtshaftungsrecht (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) auf Schäden keine Anwendung finde, die ausländischen Bürgern bei einem bewaffneten Auslandseinsatz deutscher Streitkräfte zugefügt würden. Darüber hinaus liege auch keine Amtspflichtverletzung des zuständigen Oberst i.G. vor.
Die Beschwerdeführer wenden sich gegen die Abweisung ihrer Amtshaftungsklagen durch die Zivilgerichte, letztinstanzlich durch den BGH.
Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Nach Auffassung des BVerfG sind die Versagung unmittelbar aus dem Völkerrecht resultierender Ansprüche sowie die Verneinung einer Amtspflichtverletzung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Offen bleibe allerdings, ob die Gewährung von Amtshaftungs-, Ausgleichs- oder Entschädigungsansprüchen bei Grundrechtsverletzungen vom Gesetzgeber generell ausgeschlossen werden könne.
Wesentliche Erwägungen des BVerfG
- Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, dass der BGH Entschädigungs- und Ersatzansprüche unmittelbar aus dem Völkerrecht verneint hat. Sekundärrechtliche Ansprüche wegen völkerrechtswidriger Handlungen eines Staates gegenüber fremden Staatsangehörigen stehen grundsätzlich nur dem Heimatstaat des Geschädigten als originärem Völkerrechtssubjekt zu. Es besteht keine allgemeine Regel des Völkerrechts, nach welcher dem Einzelnen bei Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht auch Ansprüche auf Schadensersatz oder Entschädigung gegen den verantwortlichen Staat zustehen müssten. Insbesondere begründen weder Art. 3 des IV. Haager Abkommens noch Art. 91 des Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen vom 12.08.1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte vom 08.06.1977 individuelle Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüche bei Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht.
- Die Verneinung von Ansprüchen aus enteignungsgleichem Eingriff und Aufopferung begegnet ebenfalls keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Beide Rechtsinstitute wurden durch die Rechtsprechung für Sachverhalte des alltäglichen Verwaltungshandelns entwickelt und sind auf Kriegsschäden, die nicht Folge regulärer Verwaltungstätigkeit sind, nicht anwendbar.
- Nicht ausgeschlossen erscheint dagegen, dass der BGH die Bedeutung und Tragweite von Art. 2 Abs. 2 und Art. 14 Abs. 1 GG verkannt hat, als er Amtshaftungsansprüche (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) als Folge von Einsätzen der Bundeswehr im Ausland generell verneint hat.
- a) Angesichts der grundsätzlichen Bindung aller deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte, die auch bei Handlungen im Ausland besteht, begegnet das Urteil insoweit Zweifeln. Die Haftung für staatliches Unrecht ist nicht nur eine Ausprägung des Legalitätsprinzips, sondern auch Ausfluss der jeweils betroffenen Grundrechte, die den zentralen Bezugspunkt für staatliche Einstandspflichten bilden. Die Grundrechte schützen nicht nur vor nicht gerechtfertigten Eingriffen des Staates in Freiheit und Gleichheit der Bürger und sind insoweit Grundlage von Unterlassungs- und Beseitigungsansprüchen, die die Integrität der grundrechtlichen Gewährleistungen sicherstellen. Wo dies nicht möglich ist, ergeben sich aus ihnen – und nicht allein aus dem auf einer politischen Entscheidung des Gesetzgebers beruhenden einfachen Recht – grundsätzlich auch Kompensationsansprüche, sei es als Schadensersatz-, sei es als Entschädigungs- und Ausgleichsleistungen. Eine derartige Rückbindung der staatlichen Unrechtshaftung ist heute ein allgemeiner Rechtsgrundsatz im europäischen Rechtsraum.
Dies wird schon wegen des Vorrangs der Verfassung durch die vom BGH angeführten Gründe, die gegen eine Anwendung des Amtshaftungsrechts auf Auslandseinsätze der Bundeswehr sprechen könnten, insbesondere die Beeinträchtigung der internationalen Bündnisfähigkeit Deutschlands und die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, nicht in Frage gestellt.
- b) Im Ergebnis ist das Urteil des BGH gleichwohl nicht zu beanstanden, da er – entscheidungstragend – auch das Vorliegen einer Amtspflichtverletzung des zuständigen Oberst i.G. verneint hat. Ob in einem bewaffneten Konflikt eine Amtspflichtverletzung deutscher Soldaten vorliegt, bemisst sich nach der Verfassung, dem Soldatengesetz und vor allem den gewaltbegrenzenden Regeln des humanitären Völkerrechts. Nicht jede Tötung einer Zivilperson im Rahmen kriegerischer Auseinandersetzungen stellt auch einen Verstoß hiergegen dar. Ein solcher ist nach dem Urteil nicht deshalb gegeben, weil vor dem Befehl zum Bombenabwurf nicht habe ausgeschlossen werden können, dass sich im Zielgebiet auch Zivilisten aufhielten. Der Oberst i.G. der Bundeswehr habe bei Erteilung des Angriffsbefehls die ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen ausgeschöpft, bei der notwendigen ex ante-Betrachtung eine gültige Prognoseentscheidung getroffen und somit keine Amtspflichtverletzung begangen. Diese Würdigung ist nachvollziehbar und verstößt jedenfalls nicht gegen das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG.