Der Europäische Gerichtshof hat am 03.02.2021 zum Aktenzeichen C-555/19 entscheiden, dass das Verbot, im Rahmen bundesweit ausgestrahlter deutscher Fernsehprogramme Werbung nur regional zu zeigen, gegen das Unionsrecht verstoßen könnte.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 13/2021 vom 03.02.2021 ergibt sich:
Dieses umfassende Verbot könnte nämlich zum einen über das hinausgehen, was erforderlich ist, um den pluralistischen Charakter des Fernsehprogrammangebots zu wahren, indem den regionalen und lokalen Fernsehveranstaltern die Einnahmen aus der regionalen Fernsehwerbung vorbehalten bleiben, und zum anderen könnte es zu einer unzulässigen Ungleichbehandlung der nationalen Fernsehveranstalter und der Anbieter von Werbedienstleistungen im Internet führen
Die Gesellschaft österreichischen Rechts Fussl Modestraße Mayr GmbH betreibt in Österreich und im Freistaat Bayern (Deutschland) eine Kette von Modegeschäften. Im Jahr 2018 schloss sie einen Vertrag mit der SevenOne Media GmbH, der Vermarktungsgesellschaft des deutschen Fernsehveranstalters ProSiebenSat. 1. Dieser Vertrag betraf auf den Freistaat Bayern beschränkte Ausstrahlung von Werbung im Rahmen des bundesweiten Programms von ProSieben.
SevenOne Media verweigerte jedoch die Erfüllung dieses Vertrags. Seit dem Jahr 2016 untersagt ein von den Bundesländern geschlossener Staatsvertrag es den Fernsehveranstaltern nämlich, in ihr bundesweit ausgestrahltes Programm Fernsehwerbung aufzunehmen, die nur regional gezeigt wird. Durch dieses Verbot soll den regionalen und lokalen Fernsehveranstaltern, indem ihnen die Einnahmen aus der regionalen Fernsehwerbung vorbehalten bleiben, eine Einnahmequelle und damit ihr Fortbestand gesichert werden, um es ihnen zu ermöglichen, zum pluralistischen Charakter des Fernsehprogrammangebots beizutragen. Das Verbot ist mit einer „Öffnungsklausel“ versehen, die es den Bundesländern ermöglicht, regionale Werbung im Rahmen des bundesweiten Programms zu erlauben.
Unter diesen Umständen möchte das mit dem Rechtsstreit über die Erfüllung des in Rede stehenden Vertrags befasste Landgericht Stuttgart (Deutschland) wissen, ob ein solches Verbot mit dem Unionsrecht vereinbar ist.
Diese Rechtssache veranlasst den Gerichtshof u. a. dazu, bestimmte in seiner Rechtsprechung zum freien Dienstleistungsverkehr aufgestellte Grundsätze anzuwenden und die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) im besonderen Kontext eines Verbots regionaler Werbung auf nationalen Fernsehsendern auszulegen. Bei einer solchen Prüfung darf nicht außer Acht gelassen werden, dass über Internetplattformen Werbedienstleistungen erbracht werden, die eine Konkurrenz für die herkömmlichen Medien darstellen können.
Würdigung durch den Gerichtshof
Erstens führt der Gerichtshof zur Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (Richtlinie 2010/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2010 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste – Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste – ABl. 2010, L 95, 1) aus, dass ihr Art. 4 Abs. 1, wonach die Mitgliedstaaten in den von dieser Richtlinie koordinierten Bereichen unter bestimmten Voraussetzungen strengere oder ausführlichere Bestimmungen vorsehen können, um den Schutz der Interessen der Zuschauer sicherzustellen, im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist. Denn das fragliche Verbot fällt zwar in einen von der Richtlinie koordinierten Bereich, nämlich den der Fernsehwerbung, betrifft jedoch eine spezielle Materie, die durch keinen Artikel der Richtlinie geregelt wird und darüber hinaus nicht das Ziel des Schutzes der Zuschauer verfolgt. Das Verbot kann daher nicht als „ausführlichere“ oder „strengere“ Bestimmung im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie eingestuft werden, so dass ihm diese Vorschrift nicht entgegensteht.
Zweitens stellt der Gerichtshof zur Vereinbarkeit des fraglichen Verbots mit dem durch Art. 56 AEUV garantierten freien Dienstleistungsverkehr zunächst fest, dass ein solches Verbot zu einer Beschränkung dieser Grundfreiheit führt, zum Nachteil sowohl der Anbieter von Werbedienstleistungen, also der Fernsehveranstalter, als auch der Empfänger dieser Dienstleistungen, also der Werbetreibenden, insbesondere jener, die in anderen Mitgliedstaaten ansässig sind. Sodann weist er in Bezug auf die Rechtfertigung dieser Beschränkung darauf hin, dass die Aufrechterhaltung des pluralistischen Charakters des Fernsehprogrammangebots einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen kann. Schließlich weist er in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit der Beschränkung darauf hin, dass das Ziel der Aufrechterhaltung des Medienpluralismus zwar, da es mit dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit im Zusammenhang steht, den nationalen Stellen ein weites Ermessen einräumt. Das fragliche Verbot muss jedoch geeignet sein, die Erreichung dieses Ziels zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was zu seiner Erreichung erforderlich ist.
Hierzu führt der Gerichtshof zum einen aus, dass das fragliche Verbot mit einem Widerspruch behaftet sein könnte, und zwar wegen des – vom nationalen Gericht zu prüfenden – Umstands, dass es nur für Werbedienstleistungen gilt, die von Fernsehveranstaltern erbracht werden, und nicht für – insbesondere lineare – Werbedienstleistungen, die im Internet erbracht werden. Dabei könnte es sich nämlich um zwei Arten auf dem deutschen Werbemarkt konkurrierender Dienstleistungen handeln, die die gleiche Gefahr für das finanzielle Wohlergehen der regionalen und lokalen Fernsehveranstalter und damit für das Ziel des Schutzes des Medienpluralismus darstellen können. Die Umstände des Ausgangsverfahrens sind insoweit im Wesentlichen mit jenen vergleichbar, die dem Urteil vom 17. Juli 2008, Corporación Dermoestética, C-500/06, zugrunde lagen. Was zum anderen die Erforderlichkeit des Verbots betrifft, könnte sich eine weniger beschränkende Maßnahme aus der tatsächlichen Umsetzung der durch die „Öffnungsklausel“ vorgesehenen Erlaubnisregelung in den Bundesländern ergeben. Das nationale Gericht hat jedoch zu prüfen, ob diese a priori weniger einschränkende Maßnahme tatsächlich so erlassen und durchgeführt werden kann, dass das verfolgte Ziel in der Praxis erreichbar ist.
Drittens stellt der Gerichtshof zu der durch Art. 11 der Charta garantierten Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit fest, dass sie einem Verbot regionaler Werbung auf nationalen Fernsehsendern wie dem in der fraglichen nationalen Maßnahme enthaltenen nicht entgegensteht. Dieses Verbot beruht nämlich im Wesentlichen auf einer Abwägung zwischen der Freiheit der nationalen Fernsehveranstalter und der Werbetreibenden zur kommerziellen Meinungsäußerung einerseits und dem Schutz des Medienpluralismus auf regionaler und lokaler Ebene andererseits. Insoweit durfte der deutsche Gesetzgeber – ohne das weite Ermessen, das ihm in diesem Rahmen zusteht, zu überschreiten – davon ausgehen, dass die Wahrung des öffentlichen Interesses Vorrang vor dem privaten Interesse der nationalen Fernsehveranstalter und der Werbetreibenden haben soll.
Viertens kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass auch der in Art. 20 der Charta verankerte Grundsatz der Gleichbehandlung dem fraglichen Verbot nicht entgegensteht, sofern es nicht zu einer Ungleichbehandlung der nationalen Fernsehveranstalter und der Anbieter von – insbesondere linearer – Werbung im Internet in Bezug auf die Ausstrahlung von Werbung auf regionaler Ebene führt. Insoweit muss das nationale Gericht prüfen, ob sich die Situation der nationalen Fernsehveranstalter und die Situation der Anbieter von – insbesondere linearen – Werbedienstleistungen im Internet in Bezug auf die Erbringung von Dienstleistungen der regionalen Werbung in den ihre jeweilige Situation kennzeichnenden Merkmalen – insbesondere den üblichen Formen der Nutzung von Werbedienstleistungen, der Art ihrer Erbringung oder dem rechtlichen Rahmen, in den sie sich einfügen – erheblich voneinander unterscheiden.