Der Europäische Gerichtshof hat am 25.02.2021 zum Aktenzeichen C-857/19 entschieden, dass Slovak Telekom, die von der Kommission wegen des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung auf dem Markt bestimmter Telekommunikationsdienstleistungen verurteilt wurde, auch von den slowakischen Behörden wegen eines derartigen Missbrauchs auf dem Markt anderer Telekommunikationsdienstleistungen mit Sanktionen belegt werden konnte.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 21/2021 vom 25.02.2021 ergibt sich:
Sobald die Kommission ein Prüfverfahren einleitet, das Zuwiderhandlungen betrifft, die mit denen identisch sind, die von den nationalen Behörden verfolgt werden, entfällt deren Zuständigkeit hierfür.
Am 21. Dezember 2007 erließ die slowakische Wettbewerbsbehörde in Anwendung der Wettbewerbsregeln der Union eine Entscheidung, mit der festgestellt wurde, dass Slovak Telekom ihre beherrschende Stellung auf dem slowakischen Markt für Telekommunikation missbraucht habe.
Am 8. April 2009 leitete die Kommission ein Verfahren gegen Slovak Telekom wegen behaupteter Missbräuche einer beherrschenden Stellung auf dem slowakischen Markt für Breitbandzugangsdienste auf Vorleistungsebene ein. Die zu prüfenden mutmaßlich wettbewerbswidrigen Praktiken betrafen zum einen die Weigerung von Slovak Telekom, einen entbündelten Zugang zu ihren Teilnehmeranschlüssen zu gewähren, und zum anderen Margenbeschneidungen für den Zugang auf Vorleistungsebene zu diesen entbündelten Teilnehmeranschlüssen und zu anderen Breitbandzugangsdiensten und den entsprechenden Endkundenzugangsdiensten in der Slowakei.
Nach Abschluss dieses Verfahrens erließ die Kommission am 15. Oktober 2014 einen Beschluss, mit dem festgestellt wurde, dass das aus Slovak Telekom und Deutsche Telekom bestehende Unternehmen seine beherrschende Stellung auf dem slowakischen Telekommunikationsmarkt missbraucht habe. Für diese Zuwiderhandlungen verhängte die Kommission gegen Slovak Telekom und Deutsche Telekom gesamtschuldnerisch eine Geldbuße in Höhe von 38 838 000 Euro (Dieser Beschluss war Gegenstand einer Klage vor dem EuG, das am 13. Dezember 2018 zwei Urteile, Deutsche Telekom/Kommission und Slovak Telekom/Kommission (T-827/14 und T-851/14) erlassen hat. Gegen diese Urteile sind Rechtsmittel eingelegt worden und die entsprechenden Rechtssachen (C-152/19 P und C-165/19 P) sind beim Gerichtshof anhängig.).
Am 9. April 2009 änderte der Rada Protimonopolného úradu Slovenskej republiky (Rat der Monopolbekämpfungsbehörde der Slowakei) die Entscheidung der slowakischen Wettbewerbsbehörde ab und verhängte gegen Slovak Telekom eine Geldbuße in Höhe von 525 800 000 slowakischen Kronen (SKK) (17 453 362,54 Euro) wegen eines Missbrauchs einer beherrschenden Stellung, der sich aus der Verfolgung einer Strategie der Beschneidung der Margen zwischen den Preisen für Endkundentelekommunikationsdienstleistungen und den Preisen für die Zusammenschaltung auf Vorleistungsebene ergebe.
Der mit dem Rechtsstreit zwischen Slovak Telekom und den slowakischen Behörden befasste Najvyšší súd Slovenskej republiky (Oberstes Gericht der Slowakischen Republik) hat Zweifel, ob die Verurteilung von Slovak Telekom wegen eines in einer Margenbeschneidung bestehenden Missbrauchs einer beherrschenden Stellung sowohl durch die slowakischen Behörden als auch durch die Kommission mit dem Grundsatz des Verbots der Doppelbestrafung (ne bis in idem) vereinbar ist, und hat dem Gerichtshof hierzu Fragen gestellt.
Mit seinem Urteil vom heutigen Tag weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass nach der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 über die Durchführung der Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, 1) die Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten für die Anwendung der wettbewerbsrechtlichen Vorschriften des AEU-Vertrags entfällt, sobald die Kommission ein Verfahren einleitet, um insbesondere eine Entscheidung zu erlassen, mit der ein Verstoß gegen diese Bestimmungen festgestellt werden soll.
Der Gerichtshof betont, dass der Begriff „Einleitung des Verfahrens durch die Kommission“ den materiellen Umfang bestimmt, in dem die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit zugunsten der Kommission verlieren. Denn dieser Zuständigkeitsverlust bezieht sich nur auf den Sachverhalt, der Gegenstand des von der Kommission eingeleiteten Verfahrens ist. Wenn die Kommission ein solches Verfahren einleitet, entfällt folglich die Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten zur Verfolgung derselben Unternehmen wegen derselben mutmaßlich wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen, die auf dem- oder denselben Märkten – Produktmärkten oder geografischen Märkten – in dem- oder denselben Zeiträumen erfolgt sind. Daher hat im vorliegenden Fall der Beschluss der Kommission vom 8. April 2009, ein Verfahren gegen Slovak Telekom einzuleiten, die Zuständigkeit der slowakischen Wettbewerbsbehörde für die Anwendung der Wettbewerbsregeln der Union nur insoweit entfallen lassen, als die von dieser Behörde geführte Untersuchung und die von der Kommission eingeleitete Untersuchung angesichts der angeführten Gesichtspunkte dieselben Zuwiderhandlungen betrafen.
Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht allerdings hervor, dass die Kommission ein Verfahren gegen Slovak Telekom wegen behaupteter Missbräuche einer beherrschenden Stellung auf dem Markt für Breitbandzugangsdienste auf Vorleistungsebene eingeleitet hat, wohingegen das Verfahren vor der slowakischen Wettbewerbsbehörde behauptete Missbräuche einer beherrschenden Stellung betraf, die dieses Unternehmen auf den Vorleistungs- und Endkundenmärkten für Telefondienste und Zugangsdienste zu langsamen Dialup-Internetverbindungen begangen hat.
Unter diesen Umständen stellt der Gerichtshof fest, dass es sich vorbehaltlich einer Nachprüfung durch den Najvyšší súd Slovenskej republiky offensichtlich so verhält, dass die Verfahren, die von der Kommission und von der slowakischen Wettbewerbsbehörde gegen Slovak Telekom geführt wurden, behauptete Missbräuche der beherrschenden Stellung von Slovak Telekom auf unterschiedlichen Produktmärkten zum Gegenstand hatten. Der Umstand, dass die Kommission das vorgenannte Verfahren gegen diese Gesellschaft eingeleitet hat, scheint daher nicht zum Verlust der Zuständigkeit der slowakischen Wettbewerbsbehörde hinsichtlich der Zuwiderhandlungen geführt zu haben, die von dem von dieser Behörde geführten Verfahren erfasst waren.
Schließlich weist der Gerichtshof darauf hin, dass der Grundsatz ne bis in idem auf die vorliegende Sachlage, in der die in Rede stehenden Produktmärkte nicht identisch sind, nicht anwendbar ist. Insoweit stellt der Gerichtshof klar, dass selbst dann, wenn sich herausstellen sollte, dass die fraglichen Produktmärkte identisch sind, dieser Grundsatz dennoch nicht anwendbar wäre, weil aufgrund der Tatsache, dass die Kommission ihr Verfahren eingeleitet hat, die slowakische Wettbewerbsbehörde ihre Zuständigkeit für die Anwendung der Wettbewerbsregeln der Union auf die Umstände des vorliegenden Falles verloren hätte.