Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 01. Juli 2020 zum Aktenzeichen 2 BvR 1907/18 entschieden, dass die Entscheidung eines Rechtsstreits im Verfahren nach billigem Ermessen gemäß § 495a der Zivilprozessordnung (ZPO) ohne vorangegangene mündliche Verhandlung verfassungswidrig ist. Er war Kläger eines auf Zahlung von Nutzungsersatz für die Inanspruchnahme zweier Grundstücke durch Holzlagerungen gerichteten zivilgerichtlichen Rechtsstreits. Das Amtsgericht ordnete die Entscheidung im Verfahren nach § 495a ZPO an. Der Beschwerdeführer beantragte gemäß § 495a Satz 2 ZPO, die mündliche Verhandlung durchzuführen. Gleichwohl wies das Amtsgericht die Klage durch Urteil vom 5. Januar 2018 ab, ohne zuvor über den Rechtsstreit mündlich verhandelt zu haben. Nach Auffassung des Amtsgerichts war die Klage unbegründet, weil unter anderem der Sachvortrag zur Höhe der Klageforderung vollständig unsubstantiiert sei.
Die dagegen vom Beschwerdeführer erhobene Anhörungsrüge verwarf das Amtsgericht durch Beschluss vom 25. Mai 2018 als unzulässig. Zwar habe das Gericht durch die Nichtbeachtung des Antrags auf mündliche Verhandlung das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers verletzt, jedoch sei eine Entscheidungserheblichkeit weder dargetan noch ersichtlich. Der Beschwerdeführer bringe keinen neuen Sachvortrag vor und lege nicht dar, was er bei der Durchführung der mündlichen Verhandlung Entscheidungserhebliches hätte vorbringen können.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 103 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG. Das Amtsgericht habe trotz des Antrags nach § 495a Satz 2 ZPO ohne mündliche Verhandlung entschieden. Sofern das Gesetz die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vorschreibe, begründe der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG ein Recht auf Äußerung in der mündlichen Verhandlung und zugleich auf deren Durchführung. Der Beschwerdeführer habe mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nicht rechnen müssen.
Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass das Urteil des Amtsgerichts vom 5. Januar 2018 den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.
Der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör steht in einem funktionalen Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie und der Justizgewährungspflicht des Staates (vgl. BVerfGE 81, 123 <129>). Er sichert einen angemessenen Ablauf des Verfahrens (vgl. BVerfGE 119, 292 <296>). Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (vgl. BVerfGE 84, 188 <190>; 86, 133 <144 ff.>). Dabei können die einfachrechtlichen Gewährleistungen des rechtlichen Gehörs in den Verfahrensordnungen über das spezifisch verfassungsrechtlich gewährleistete Ausmaß an rechtlichem Gehör hinausreichen. Demgemäß stellt eine Verletzung einfachrechtlicher Bestimmungen nicht zugleich einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG dar, es sei denn, das Gericht hätte bei der Auslegung oder Anwendung der einfachrechtlichen Vorschriften die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf rechtliches Gehör verkannt. Danach bedarf es bei der Verletzung solcher Vorschriften im Einzelfall der Prüfung, ob dadurch zugleich das unabdingbare Maß verfassungsrechtlich verbürgten rechtlichen Gehörs verkürzt worden ist (vgl. BVerfGE 60, 305 <310 f.>; BVerfGK 19, 377 <381 f.>).
Aus Art. 103 Abs. 1 GG folgt nicht unmittelbar ein Anspruch auf eine mündliche Verhandlung (vgl. BVerfGE 5, 9 <11>; 112, 185 <206>; stRspr). Vielmehr ist es Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, in welcher Weise rechtliches Gehör gewährt werden soll (vgl. BVerfGE 5, 9 <11>; 89, 381 <391>). Hat eine mündliche Verhandlung aber von Gesetzes wegen stattzufinden, wie dies in den Fällen des § 495a Satz 2 ZPO auf Antrag einer Partei vorgeschrieben ist, verletzt eine diesen Antrag ohne Weiteres übergehende Entscheidung ohne mündliche Verhandlung den Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Mit einer solchen Verfahrensweise wird das rechtlich geschützte Vertrauen des Betroffenen, Tatsachen und Rechtsauffassungen noch im Rahmen einer mündlichen Verhandlung unterbreiten zu können, in überraschender Weise enttäuscht und die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf rechtliches Gehör verkannt (BVerfGK 19, 377 <382>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 13. Juni 2018 – 1 BvR 1040/17 -, Rn. 8 m.w.N.).
Nach diesen Maßstäben verletzt das amtsgerichtliche Urteil den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG.
Gemäß § 495a Satz 2 ZPO hätte das Amtsgericht entsprechend dem Antrag des Beschwerdeführers vor Erlass seines Urteils mündlich verhandeln müssen. Die Durchführung der mündlichen Verhandlung war zur Wahrung des rechtlichen Gehörs des Beschwerdeführers auch verfassungsrechtlich geboten.
Anders als das Amtsgericht meint, beruht das Urteil auf dem Gehörsverstoß. Unterbleibt eine einfachrechtlich zwingend gebotene mündliche Verhandlung, kann in aller Regel nicht ausgeschlossen werden, dass bei Durchführung der mündlichen Verhandlung eine andere Entscheidung ergangen wäre, weil die mündliche Verhandlung grundsätzlich den gesamten Streitstoff in prozess- und materiellrechtlicher Hinsicht zum Gegenstand hat und je nach Prozesslage, Verhalten der Gegenseite und Hinweisen des Gerichts zu weiterem Sachvortrag, Beweisanträgen und Prozesserklärungen führen kann, ohne dass dies im Einzelnen sicher vorhersehbar wäre (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 13. Juni 2018 – 1 BvR 1040/17 -, Rn. 10 m.w.N.). Es genügt, dass jedenfalls denkbar ist, dass das Gericht aufgrund einer mündlichen Verhandlung zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. März 2017 – 2 BvR 977/16 -, NJW-RR 2017, S. 690, Rn. 10).
Umstände, die dies in jedem Fall ausgeschlossen erscheinen ließen, ergeben sich nicht schon daraus, dass das Amtsgericht das Vorbringen des Beschwerdeführers, vor allem zur Höhe der geforderten Nutzungsentschädigung, als nicht hinreichend substantiiert bewertet hat. In der mündlichen Verhandlung hat das Gericht gemäß § 139 Abs. 1 ZPO das Sach- und Streitverhältnis, soweit erforderlich, mit den Parteien nach der tatsächlichen und rechtlichen Seite zu erörtern und Fragen zu stellen sowie daraufhin zu wirken hat, dass die Parteien insbesondere ungenügende Angaben zu den geltend gemachten Tatsachen ergänzen. Das schließt die Möglichkeit ein, dass der Beschwerdeführer im Rahmen einer solchen Erörterung in der mündlichen Verhandlung seinen Sachvortrag in einer vom Amtsgericht für erforderlich gehaltenen Weise nachgebessert hätte. Es ist gerade der Sinn und Zweck einer mündlichen Verhandlung, Lücken und Unklarheiten des wechselseitigen Vorbringens zu beseitigen und Missverständnisse zu beheben (vgl. Fritsche, in: MüKoZPO, 6. Aufl. 2020, § 128 Rn. 2). Das Beruhen ist damit zu bejahen, weil nicht vorhersehbar ist, auf welcher Tatsachengrundlage das Gericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung letztlich zu entscheiden gehabt hätte.
Danach war festzustellen, dass das Urteil des Amtsgerichts vom 5. Januar 2018 den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Insoweit war das Urteil aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Der die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers verwerfende Beschluss des Amtsgerichts vom 25. Mai 2018 wird insoweit gegenstandslos.