Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 04. Mai 2022 zum Aktenzeichen 2 BvL 1/22 eine Vorlage des Amtsgerichts Wiesbaden zu § 193 Abs. 6 Satz 2 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) für unzulässig erklärt, da sie den Begründungsanforderungen des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG nicht genügt. Die Vorlage betrifft die Frage, ob diese Vorschrift insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als der Versicherungsnehmer für jeden angefangenen Monat eines Prämienrückstandes einen Säumniszuschlag in Höhe von 1 Prozent des Prämienrückstandes zu entrichten hat.
Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 44/2022 vom 20. Mai 2022 ergibt sich:
Sachverhalt:
Nach § 193 Abs. 3 Satz 1 VVG ist jede Person mit Wohnsitz im Inland grundsätzlich verpflichtet, für sich selbst und für die von ihr gesetzlich vertretenen Personen eine private Krankheitskostenversicherung zu gesetzlich näher geregelten Bedingungen abzuschließen und aufrechtzuerhalten. Gerät der Versicherungsnehmer einer solchen Pflichtkrankenversicherung mit der Prämienzahlung in Rückstand, so hat er nach § 193 Abs. 6 Satz 2 VVG für jeden angefangenen Monat eines Prämienrückstandes anstelle von Verzugszinsen einen Säumniszuschlag in Höhe von 1 Prozent des Prämienrückstandes zu entrichten.
In der der Vorlage des Amtsgerichts zugrundeliegenden zivilrechtlichen Streitigkeit verklagte ein Versicherungsunternehmen einen Versicherungsnehmer auf Zahlung rückständiger Prämienbeiträge nebst Säumniszuschlägen nach § 193 Abs. 6 Satz 2 VVG.
Das Amtsgericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 193 Abs. 6 Satz 2 VVG mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Diese Frage sei entscheidungserheblich, denn falls die Vorschrift verfassungskonform sei, müssten der Klägerin die Säumniszuschläge wie beantragt zugesprochen werden. Andernfalls habe das Gericht der Klägerin keine Säumniszuschläge in der geforderten Höhe zuzusprechen, sondern nur denjenigen Prozentsatz, der nicht auf die Zinsen entfalle. § 193 Abs. 6 Satz 2 VVG verstoße unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 233a der Abgabenordnung (AO) gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG.
Nach § 233a AO sind Steuernachforderungen und Steuererstattungen unter den dort genannten Bedingungen zu verzinsen. Die Zinsen betragen für jeden Monat einhalb Prozent (§ 238 Abs. 1 Satz 1 AO). Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat § 233a in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar erklärt, soweit der Zinsberechnung für Verzinsungszeiträume ab dem 1. Januar 2014 ein Zinssatz von einhalb Prozent für jeden Monat zugrunde gelegt wird (Beschluss des Ersten Senats vom 8. Juli 2021 – 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17).
Es besteht nach Auffassung des vorlegenden Gerichts eine Ungleichbehandlung zwischen zinszahlungspflichtigen Steuernachzahlern und säumniszuschlagszahlungspflichtigen Versicherungsnehmern seit dem Jahr 2014. Diese Ungleichbehandlung sei nicht gerechtfertigt.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Die Vorlage ist unzulässig, weil sie den aus § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG folgenden Begründungsanforderungen nicht genügt.
Das Amtsgericht hat nicht nachvollziehbar dargetan, dass die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift des § 193 Abs. 6 Satz 2 VVG im derzeitigen Verfahrensstadium entscheidungserheblich ist.
Die Vorlage lässt nicht erkennen, ob oder dass der Sachverhalt vollständig aufgeklärt und die erforderlichen Beweise erhoben worden sind, die Sache mithin entscheidungsreif ist. Das Amtsgericht legt insbesondere nicht dar, ob der Beklagte die für das Bestehen eines Anspruches erforderlichen tatsächlichen Voraussetzungen zugestanden hat oder das Gericht aufgrund durchgeführter Beweisaufnahme zur Überzeugung gelangt ist, dass die vorbezeichneten Tatsachen feststehen. Es ist nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, sich den Sachverhalt erst durch Auswertung der Akten des Ausgangsverfahrens zu erarbeiten. Vielmehr ist es in die Lage zu versetzen, nur anhand des Vorlagebeschlusses entscheiden zu können, ob die Verfassungskonformität einer gesetzlichen Regelung aus Sicht des vorlegenden Gerichtes entscheidungserheblich ist.
Das Amtsgericht subsumiert zudem nicht unter die zur Überprüfung gestellte Regelung des § 193 Abs. 6 Satz 2 VVG. Insbesondere wird nicht erkennbar, welche Tatbestandsmerkmale vom Amtsgericht als erforderlich und erfüllt angesehen werden. Dies gilt maßgeblich für das Erfordernis des Verzugs und des Vertretenmüssens, über das in der Literatur Streit besteht, zu dem das Amtsgericht aber nicht Stellung bezieht. Das Bundesverfassungsgericht kann daher auch aus diesem Grund nicht beurteilen, ob die Entscheidungserheblichkeit aus der insoweit maßgeblichen Sicht des Amtsgerichts nachvollziehbar bejaht wurde.
Die Ausführungen zur Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung gestellten Norm genügen den Vorgaben des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ebenfalls nicht. Das Amtsgericht stellt nicht hinreichend dar, weshalb es von der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Norm überzeugt ist.
Soweit es von einer Ungleichbehandlung „zwischen zinszahlungspflichtigen Steuernachzahlern und säumniszuschlagszahlungspflichtigen Versicherungsnehmern“ ausgeht, arbeitet es einen mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG gleichheitsrechtlich relevanten Bezugspunkt nicht heraus. Das Amtsgericht geht davon aus, dass die auf Steuerpflichtige einerseits und Versicherungsnehmer andererseits jeweils Anwendung findenden Normen des § 233a Abs. 1 AO und des § 193 Abs. 6 Satz 2 VVG derart miteinander vergleichbar sind, dass sich aus der Verfassungswidrigkeit der Regelung des § 233a Abs. 1 AO „erst recht“ eine Verfassungswidrigkeit des § 193 Abs. 6 Satz 2 VVG ergibt. Dafür fehlt es an einer tragfähigen Begründung.
Das Amtsgericht hätte darlegen müssen, inwieweit Versicherungsnehmer im Hinblick auf diese Konstellation mit Steuerpflichtigen vergleichbar sind. Es fehlt vor diesem Hintergrund bereits an einer hinreichenden einfach-rechtlichen Auseinandersetzung sowohl mit der vorgelegten Regelung des § 193 Abs. 6 Satz 2 VVG als auch mit der ihr gegenübergestellten Vorschrift des § 233a Abs. 1 AO. Damit wird die für einen „Erst-Recht-Schluss“ erforderliche Vergleichbarkeit beider Normen und somit der ihnen unterfallenden Personengruppen nicht hinreichend substantiiert dargelegt.
Die nach § 233a AO geregelte Vollverzinsung soll stark typisierend objektive Zins- und Liquiditätsvorteile erfassen, die dadurch entstehen, dass zwischen Entstehung des Steueranspruchs und seiner Fälligkeit nach Festsetzung ein Zeitraum von mehreren Jahren liegen kann. Nachzahlungszinsen sind dementsprechend – anders als etwa ein Verspätungszuschlag – weder Sanktion noch Druckmittel, sondern ein Ausgleich für die Kapitalnutzung.
Der in § 193 Abs. 6 Satz 2 VVG geregelte Säumniszuschlag tritt demgegenüber seinem Sinn und Zweck nach an die Stelle der Möglichkeit des Versicherers, für den Prämienrückstand Verzugszinsen nach den allgemeinen Bestimmungen zu verlangen (§ 286 Abs. 1, § 288 BGB). Er nimmt daher zunächst die Rolle eines Bereicherungsausgleichs, aber auch eines Druckmittels ein, dem eine „verhaltenssteuernde Wirkung“ zukommt. Der vergleichsweise hohe Säumniszuschlag erfüllt zudem eine pönale Funktion. Die Abschöpfung von Liquiditätsvorteilen ist nicht Haupt-, sondern allenfalls Nebenzweck der Regelung. Anders als im Steuerrecht ist der Säumniszuschlag die Folge einer dem Versicherungsnehmer zurechenbaren Pflichtverletzung, der Nichtzahlung der Prämien trotz Fälligkeit und Einredefreiheit.
Das Amtsgericht wäre daher gehalten gewesen, sich mit Sinn und Zweck des Säumniszuschlags auseinanderzusetzen. Dabei hätte es insbesondere die Frage in den Blick nehmen müssen, ob ein Vertretenmüssen tatbestandliche Voraussetzung eines Anspruchs auf Zuerkennung von Säumniszuschlägen ist. Allein hierdurch würde sich der Säumniszuschlag ganz wesentlich von der Verzinsung nach § 233a AO unterscheiden.
Schließlich setzt sich das Amtsgericht nicht mit dem Grund für eine vergleichsweise hohe Verzinsung im Kontext versicherungsrechtlicher Besonderheiten auseinander. Der in § 193 Abs. 6 VVG geregelte Mechanismus tritt aufgrund der Bedeutung des Krankenversicherungsschutzes für den Versicherungsnehmer an die Stelle des sonst bei Zahlungsverzug bestehenden Kündigungsrechts des Versicherers. Dem Versicherer fehlt trotz andauernder Verletzung der Hauptleistungspflichten durch den Versicherungsnehmer die Möglichkeit, sich durch die Ausübung eines Gestaltungsrechts vom Vertrag zu lösen. Er muss stattdessen den Versicherungsvertrag im Notlagentarif fortsetzen und weitere Leistungen erbringen, weshalb es für ihn und letztlich die gesamte Versichertengemeinschaft von gesteigertem Interesse ist, den Versicherungsnehmer zu der Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten.