Untersuchungshaft ist verfassungswidrig

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 08. Juli 2021 zum Aktenzeichen 2 BvR 575/21 entschieden, dass ein Haftbefehl verfassungswidrig ist.

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen einen Haftbefehl des Amtsgerichts.

Die Staatsanwaltschaft führte gegen den einschlägig vorbestraften damals 20-jährigen Beschwerdeführer ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Verbreitung und des Besitzes kinder- und jugendpornographischer Schriften.

Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist, nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt. Bei der vorzunehmenden Verhältnismäßigkeitsprüfung hat der Richter stets im Auge zu behalten, dass es der vornehmliche Zweck und der eigentliche Rechtfertigungsgrund der Untersuchungshaft ist, die Durchführung eines geordneten Strafverfahrens zu gewährleisten und die spätere Strafvollstreckung sicherzustellen; ist sie zu einem dieser Zwecke nicht mehr nötig, so ist es unverhältnismäßig und daher grundsätzlich unzulässig, sie anzuordnen, aufrechtzuerhalten oder zu vollziehen. Der Haftgrund der Fluchtgefahr dient diesem Zweck.

Die Gerichte haben bei der Auslegung und Anwendung des Haftrechts auch die formellen Gewährleistungen des Art. 104 GG in den Blick zu nehmen, denn diese stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in einem unlösbaren Zusammenhang. Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen, indem er neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz die Pflicht, die sich aus diesem Gesetz ergebenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt. Verstöße gegen die durch Art. 104 GG gewährleisteten Voraussetzungen und Formen freiheitsbeschränkender Gesetze stellen daher stets auch eine Verletzung der Freiheit der Person dar. Inhalt und Reichweite freiheitsbeschränkender Gesetze sind deshalb von den Gerichten so auszulegen und anzuwenden, dass sie eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene Wirkung entfalten.

Das in § 116 Abs. 4 StPO zum Ausdruck kommende Gebot, die Aussetzung des Vollzuges eines Haftbefehls durch den Richter nur dann zu widerrufen, wenn sich die Umstände im Vergleich zu der Beurteilungsgrundlage zur Zeit der Gewährung der Verschonung verändert haben, gehört zu den bedeutsamsten (Verfahrens-)Garantien, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht. Ist ein Haftbefehl einmal unangefochten außer Vollzug gesetzt worden, so ist jede neue haftrechtliche Entscheidung, die den Wegfall der Haftverschonung zur Folge hat, nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO möglich. Da § 116 Abs. 4 StPO für jede haftrechtliche Entscheidung gilt, die nach Außervollzusetzung eines Haftbefehls ergeht, kommt § 116 Abs. 4 StPO auch zur Anwendung, wenn ein außer Vollzug gesetzter Haftbefehl aufgehoben wird und in der Folge ein neuer Haftbefehl erlassen und in Vollzug gesetzt wird. Das gilt insbesondere dann, wenn keine maßgebliche Änderung der Umstände bei gleichbleibender prozessualer Lage gegeben ist.

Nach diesen Grundsätzen sind die einzelnen Widerrufsgründe wegen der wertsetzenden Bedeutung des Freiheitsgrundrechts eng auszulegen. Insbesondere bei der Auslegung des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO, nach dem der erneute Vollzug eines Haft– oder Unterbringungsbefehls nur in Betracht kommt, wenn neu hinzugetretene Tatsachen die Verhaftung erforderlich machen, sind strenge Maßstäbe anzusetzen. Der erneute Vollzug eines Haft– oder Unterbringungsbefehls kommt nur in Betracht, wenn – auch zeitlich vor dem Aussetzungsbeschluss entstandene – schwerwiegende Tatsachen nachträglich bekannt werden, die das Gericht, hätte es sie im Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung gekannt, zur Ablehnung der Verschonung veranlasst. Entscheidend ist, ob durch die neu hinzugetretenen Tatsachen die Vertrauensgrundlage für die Aussetzungsentscheidung entfallen ist.

Ob dies der Fall ist, erfordert vor dem Hintergrund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG eine Beurteilung sämtlicher Umstände des Einzelfalls. Dabei sind die Grenzen, innerhalb derer eine Haftverschonung wegen neu hervorgetretener Umstände widerrufen werden kann, eng gesteckt, denn das Gericht ist an die Beurteilung der Umstände, auf denen die Aussetzung beruht, grundsätzlich gebunden. Lediglich eine nachträglich andere Beurteilung bei gleichbleibender Sachlage rechtfertigt den Widerruf nicht. Vielmehr ist angesichts der Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG die Schwelle für eine Widerrufsentscheidung grundsätzlich sehr hoch anzusetzen. Im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung stets zu berücksichtigen ist deshalb vor allem, dass der Beschuldigte inzwischen Gelegenheit hatte, sein Verhalten gegenüber dem Strafverfahren zu dokumentieren, insbesondere wenn er das in ihn gesetzte Vertrauen durch die strikte Beachtung der ihm erteilten Auflagen gerechtfertigt hat.

Die neu hervorgetretenen Umstände müssen sich jeweils auf die Haftgründe beziehen. Nicht herangezogen werden dürfen Umstände des Verdachtsgrades, denn der dringende Tatverdacht ist bereits Grundvoraussetzung für den Erlass und die Aufrechterhaltung eines Haftbefehls. Es ist somit ohne Belang, ob sich der dringende Tatverdacht verstärkt hat oder nach einer Beweisaufnahme der Tatvorwurf zur Überzeugung des Gerichts feststeht, wenngleich zu sehen ist, dass sich mit der Verurteilung das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs grundsätzlich vergrößert. Auch der Abschluss des Ermittlungsverfahrens durch die Anklageerhebung als solcher genügt deshalb für eine erneute Inhaftierung nicht, denn auch die Konkretisierung der Tatvorwürfe in einer Anklageschrift betrifft die für § 116 Abs. 4 StPO grundsätzlich irrelevante Ebene des Tatverdachts und nicht die Ebene des Haftgrundes.

Wirken sich die neu hervorgetretenen Tatsachen aber nicht nur auf den Verdachtsgrad, sondern auch auf einen Haftgrund aus, können sie gegebenenfalls eine erneute Inhaftierung des Beschuldigten rechtfertigen. Das gilt insbesondere dann, wenn neu hervorgetretene Umstände den Fluchtanreiz des Beschuldigten stärken, etwa, weil dieser unerwartet streng verurteilt wurde oder im Ermittlungsverfahren neue Taten hinzugetreten sind. Beziehen sich solche Umstände auf die Straferwartung, rechtfertigen sie die Wiederinvollzugsetzung dann, wenn sie zu einer Straferwartung führen, die von der Prognose des Haftrichters zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung erheblich zum Nachteil des Beschuldigten abweicht und sich nach einer Abwägung und Beurteilung aller Umstände des Einzelfalls ergibt, dass sich die Fluchtgefahr durch die Abweichung ganz wesentlich erhöht.

Stand dem Beschuldigten aber die Möglichkeit einer für ihn nachteiligen Änderung der Prognose während der Außervollzugsetzung des Haftbefehls stets vor Augen und kam er gleichwohl allen Auflagen beanstandungsfrei nach, setzt sich insoweit der vom Beschuldigten auf der Grundlage des Verschonungsbeschlusses gesetzte Vertrauenstatbestand (vgl. § 116 Abs. 4 Nr. 2 StPO) als Ausprägung der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung durch. Selbst wenn die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO unter Berücksichtigung dieser Grundsätze vorliegen, bleibt infolge des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit stets zu prüfen, ob statt einer Rücknahme der Haftverschonung nicht mildere Mittel der Verfahrenssicherung in Betracht kommen.

Vor dem Hintergrund, dass Inhalt und Reichweite freiheitsbeschränkender Gesetze so auszulegen und anzuwenden sind, dass sie eine der Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit angemessene Wirkung entfalten, fordert die Anwendung des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO nachvollziehbare Feststellungen dazu, von welcher Straferwartung der Beschuldigte im Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls ausging; bloße Mutmaßungen genügen insoweit nicht. Unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens ist, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht.

Auch Entscheidungen über die Wiederinvollzugsetzung eines Haftbefehls unterliegen insofern – ebenso wie Haftfortdauerentscheidungen – einer erhöhten Begründungstiefe. Geboten sind aktuelle Ausführungen zu dem Vorliegen der Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit. Die zugehörigen Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein. Die fachgerichtlichen Ausführungen müssen hierzu die maßgeblichen Umstände des jeweiligen Einzelfalls umfassend berücksichtigen und regelmäßig auch den gegen die erneute Inhaftierung sprechenden Tatsachen Rechnung tragen, um die Prognoseentscheidung des Gerichts auch intersubjektiv nachvollziehbar zu machen. Eine Überprüfung der fachgerichtlichen Entscheidung auf die zutreffende Anwendung einfachen Rechts nimmt das Bundesverfassungsgericht hingegen ausschließlich im Rahmen des Willkürverbots vor.

Diesen sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ergebenden Anforderungen werden die angefochtenen Entscheidungen nicht gerecht. Weder Amtsgericht und Landgericht noch Oberlandesgericht haben in der gebotenen Begründungstiefe dargelegt, weshalb zehn Monate nach der Außervollzugsetzung des Haftbefehls neu hervorgetretene Umstände dessen Wiederinvollzugsetzung sowie nach dessen Aufhebung den Erlass eines neuen Haftbefehls und dessen Invollzugsetzung erforderlich gemacht haben. Die Gerichte haben in die von ihnen vorzunehmende Abwägung nicht alle relevanten Gesichtspunkte mit dem ihnen von Verfassungs wegen zukommenden Gewicht einbezogen, die nach Lage der Dinge hätten einbezogen werden müssen.

Amtsgericht und Landgericht haben sich bei ihren Entscheidungen mit § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO und der zu dieser Norm ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht befasst. Das Amtsgericht hat die Fluchtgefahr auf dieselben Gründe gestützt, wie es sie auch in dem außer Vollzug gesetzten Haftbefehl angenommen hatte. Dabei hat es sogar wortgleich formuliert, ohne die Begründung um neue Umstände zu ergänzen. Das Landgericht führt zwar aus, dass sich die Fluchtgefahr im Vergleich zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung wesentlich erhöht habe, nennt aber zunächst nur Umstände, die zu diesem Zeitpunkt bereits vorgelegen hatten. Dies sind die Vorverurteilungen, Therapiebemühungen sowie die familiäre und berufliche Integration des Beschwerdeführers, welche ihn von der Begehung weiterer Taten nicht abgehalten hätten. Als alleinige neue Grundlage nennt das Landgericht die Auswertungen der Speichermedien vom 20. Mai 2019 und vom 11. Februar 2020, wobei es keine Ausführungen zu dem Umfang der aufgefundenen Bilder macht. Das Landgericht folgert daraus, ohne einen Vergleich zu einer vorherigen Straferwartung zu ziehen oder diese darzulegen, dass der Beschwerdeführer eine mehrjährige Einheitsjugendstrafe zu erwarten habe, die so zu bemessen sein werde, dass im Vollzug eine sexualtherapeutisch ausgerichtete Sozialtherapie stattfinden könne. Inwiefern sich diese Straferwartung von derjenigen des den Haftbefehl außer Vollzug setzenden Amtsgerichts, welches eine ganz erhebliche Freiheitsstrafe – die nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden könne – annahm, unterscheidet, erörtert das Landgericht nicht.

Auch die Begründung des Oberlandesgerichts für die Wiederinvollzugsetzung nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO ist verfassungsrechtlich nicht tragfähig.

Zwar kann die Erweiterung und Konkretisierung der Tatvorwürfe durch die Ergebnisse der zwei Auswertungen der Speichermedien, welche zum Auffinden von jeweils über 100 inkriminierten Schriften führte, ein rechtfertigender Grund für eine erneute Inhaftierung eines Beschuldigten sein. Voraussetzung ist aber, dass diese Umstände zu einem ganz wesentlichen Abweichen der Straferwartung zum Nachteil des Beschuldigten führen und sich die Fluchtgefahr deshalb ganz deutlich erhöht. Vorausgesetzt werden nachvollziehbare Feststellungen dazu, von welcher Straferwartung der Beschuldigte im Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls ausging; bloße Mutmaßungen genügen insoweit nicht.

Das Oberlandesgericht erörtert nicht, inwiefern die Konkretisierung der Tatvorwürfe zu einer für den Beschwerdeführer nachteiligen Abweichung von der Straferwartung im Zeitpunkt der Außervollzugsetzung geführt hat, sodass das Amtsgericht, hätte es zu diesem Zeitpunkt die Gründe gekannt, keine Verschonung gewährt hätte. Im Hinblick auf die Erhöhung der Straferwartung macht es keine Angaben dazu, welche Strafe der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung zu erwarten hatte, sondern stellt allein die im Zeitpunkt seiner Entscheidung bestehende Straferwartung von einer mehrjährigen Einheitsjugendstrafe, die nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden könne, als deutlich gestiegene Straferwartung dar. Bereits das Amtsgericht war von einer ganz erheblichen nicht bewährungsfähigen Freiheitsstrafe ausgegangen.

Das Oberlandesgericht setzt sich auch nicht damit auseinander, dass zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls bereits der dringende Verdacht bestand, dass die Auswertung der Speichermedien aus der zweiten Durchsuchung zum Auffinden einer größeren Anzahl an kinder- und jugendpornographischen Schriften führen würde. Dem Amtsgericht muss zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung bekannt gewesen sein, dass beim Beschwerdeführer eine dritte Durchsuchung am frühen Morgen desselben Tages stattgefunden hatte, und somit zumindest ein Anfangsverdacht hinsichtlich des Auffindens des vorher ins Internet geladenen Bildmaterials bestand. Dass das Amtsgericht trotz Kenntnis dieser Umstände den Haftbefehl außer Vollzug setzte, wäre in die Erwägungen zur Erhöhung der Straferwartung und Fluchtgefahr einzubeziehen gewesen.

Selbst wenn die Taten vom 19. April 2020 und 14. Juli 2020, anders als dies das Oberlandesgericht im Rahmen seiner Abwägung getan hat, als neu hervorgetretene Umstände gewertet würden, könnten die Ausführungen des Oberlandesgerichts hierzu eine erneute Inhaftierung nicht rechtfertigen. Maßgeblich ist auch hier, ob die in einem weiteren Ermittlungsverfahren bekannt gewordenen Tatvorwürfe zu einer ganz wesentlichen Abweichung der Straferwartung zum Nachteil des Beschuldigten und daraus folgend zu einer deutlichen Erhöhung des Fluchtanreizes führten. Diese Maßstäbe berücksichtigt das Oberlandesgericht nicht. Es nennt weder das Ermittlungsstadium noch setzt es sich mit konkreten Tatvorwürfen auseinander noch geht es auf die Auswirkungen dieses weiteren Strafverfahrens auf die Höhe der Straferwartung ein.

Zudem hat das Oberlandesgericht einseitig auf die Höhe der Straferwartung abgestellt und dem Umstand, dass der Beschwerdeführer durch das Befolgen der ihm erteilten Auflagen einen Vertrauenstatbestand geschaffen hat und hierin grundsätzlich schutzwürdig ist, zu Unrecht nicht die ihm von Verfassungs wegen gebührende Bedeutung beigemessen. Dem Beschwerdeführer hat während der Außervollzugsetzung des Haftbefehls für einen Zeitraum von zehn Monaten die für ihn nachteilige Änderung der Prognose stets vor Augen gestanden. Dennoch ist er beanstandungsfrei allen Auflagen nachgekommen. Ihm war dabei während der Außervollzugsetzung bewusst, dass bei ihm ein zweites und auch ein drittes Mal durchsucht worden war, sodass er anhand seiner Erfahrung mit der ersten Durchsuchung davon ausgehen musste, dass inkriminiertes Bildmaterial auf seinen Speichermedien gefunden werden würde und die Straferwartung erhöhen könnte. Spätestens mit Zustellung der Anklageschrift am 17. September 2020 wusste der Beschwerdeführer, welche Anzahl an kinder- und jugendpornographischen Bildern bei ihm aufgefunden worden waren. Dennoch hielt er sich weitere drei Monate bis zur Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls an die Auflagen. All dem hat das Oberlandesgericht nicht die von Verfassungs wegen gebotene Bedeutung beigemessen. Im Hinblick auf den vom Beschwerdeführer geschaffenen Vertrauenstatbestand kommt es nicht auf das sonstige Wohlverhalten des Beschwerdeführers an. Die von ihm geschaffene und von den Gerichten in die Abwägung einzustellende Vertrauenslage betrifft allein den Umstand, dass er sich dem Verfahren zur Verfügung hält.

Soweit das Oberlandesgericht den Abschluss der Ermittlungen mit der Anklageerhebung sowie die Eröffnung des Hauptverfahrens als neu hervorgetretene Umstände im Sinne des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO ansieht, lässt sich diese Argumentation nicht mit den verfassungsrechtlichen Maßstäben zur Auslegung dieser Norm in Einklang bringen. Die Anklageerhebung als solche genügt für eine erneute Inhaftierung grundsätzlich nicht, denn die Tatsache der Anklageerhebung selbst betrifft die – für § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO irrelevante – Ebene des Tatverdachts und nicht die Ebene des Haftgrundes. Gleiches gilt für die Eröffnung des Hauptverfahrens, da sich diese Entscheidung ebenfalls lediglich auf die Beurteilung des Tatverdachts (§ 203 StPO) bezieht.

Sofern das Oberlandesgericht im Rahmen der Begründung der Fluchtgefahr den Abbruch der therapeutischen Maßnahme in einer Wohngruppe als Grund für die fehlende Unterstützung durch die Familie benennt, setzt es sich nicht damit auseinander, dass diese Maßnahme bereits im Juli 2017 beendet wurde. Das Oberlandesgericht hätte hier angesichts des Zeitablaufs erörtern müssen, ob die Kenntnis dieses Umstandes das Amtsgericht zur Ablehnung der Verschonung veranlasst hätte. Die Festnahme am 11. Februar 2020 vor der Entscheidung der Außervollzugsetzung kann ebenfalls nicht als neu hervorgetretener Umstand gewertet werden, denn sie ging – denknotwendig – der Außervollzugsetzungsentscheidung vom 11. Februar 2020 unmittelbar voraus und war damit Grundlage des durch die Entscheidung über die Außervollzugsetzung gesetzten Vertrauenstatbestands.

Es ist daher gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG festzustellen, dass der Haftbefehl des Amtsgerichts Augsburg vom 13. Januar 2021, der Beschluss des Landgerichts Augsburg vom 5. Februar 2021 und der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 1. März 2021 den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG verletzen.

Soweit der Beschwerdeführer über die Feststellung der Verfassungswidrigkeit hinaus die Aufhebung der angegriffenen Entscheidungen begehrt, hat er nur insoweit Erfolg, als ihm in den angegriffenen Entscheidungen die Kosten des fachgerichtlichen Beschwerdeverfahrens auferlegt wurden. Nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG werden die Beschwerdeentscheidungen von Landgericht und Oberlandesgericht im Kostenausspruch aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung über die Kosten des gesamten Beschwerdeverfahrens an das Oberlandesgericht München zurückverwiesen.