Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in München hat mit Beschluss v. 24.07.2020 zum Aktenzeichen 15 CS 20.1332 entschieden, dass bei neueren Bebauungsplänen, die unter der Geltung des Baugesetzbuchs erlassen worden sind, es nicht unproblematisch erscheint, einer bauleitplanerischen Festsetzung im Wege richterrechtlicher „Korrektur“ unter Berufung auf die „Wannsee-Rechtsprechung“ des Bundesverwaltungsgerichts eine vom Plangeber nicht positiv gewollte Drittschutzwirkung zu unterstellen.
Der Antragsteller wendet sich als Eigentümer des benachbarten, mit einem Einfamilienhaus bebauten Grundstücks gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung.
Das Verwaltungsgericht hat in der mit der Beschwerde angegriffenen Entscheidung ausgeführt, dass sich ein Wille der plangebenden Gemeinde, den Festsetzungen des hier einschlägigen Bebauungsplans insbesondere zum Maß der baulichen Nutzung, zur überbaubaren Grundstücksfläche (Baugrenzen) sowie zur Ortsgestaltung (Dach- und Kniestockausführung), von denen im Rahmen der Baugenehmigung Befreiungen erteilt worden sind, drittschützende Wirkung zukommen zu lassen, weder dem Bebauungsplan unmittelbar selbst entnehmen lasse.
Nach der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, auf die sich der Antragsteller beruft, können Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung – Gleiches dürfte auch für sonstige Festsetzungen gelten – allerdings auch dann drittschützende Wirkung entfalten, wenn der Bebauungsplan aus einer Zeit stammt, in der man ganz allgemein an einen nachbarlichen Drittschutz aus Festsetzungen eines Bebauungsplans noch nicht gedacht hat. Der baurechtliche Nachbarschutz beruht auf dem Gedanken des wechselseitigen Austauschverhältnisses, in dem der nachbarliche Interessenkonflikt durch Merkmale der Zuordnung, der Verträglichkeit und der Abstimmung benachbarter Nutzungen geregelt und ausgeglichen wird. Dieser Gedanke – so das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 9. August 2018 (sog. „Wannsee-Entscheidung“, BVerwG, U.v. 9.8.2018 – 4 C 7.17 – BVerwGE 162, 363 = juris Rn. 15 f.) – prägt nicht nur die Anerkennung der drittschützenden Wirkung von Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung, sondern kann auch eine nachbarschützende Wirkung von Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung rechtfertigen. Der Umstand, dass ein Plangeber die Rechtsfolge einer nachbarschützenden Wirkung der Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung zum Zeitpunkt der Planaufstellung nicht in seinen Willen aufgenommen hatte, verbietet es dann nicht, die Festsetzungen nachträglich subjektivrechtlich aufzuladen.
Es spricht allerdings Einiges dafür, die Möglichkeit einer n a c h t r ä g l i c h e n subjektivrechtlichen Aufladung von Festsetzungen eines Bebauungsplans, die nicht die Art der baulichen Nutzung betreffen, von vornherein auf (übergeleitete) Bebauungspläne zu begrenzen, die aus einer Zeit vor Inkrafttreten des BBauG und der erst im Jahr 1960 beginnenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Nachbarschutz stammen, und im Übrigen bei jüngeren Bebauungsplänen – wie dem hier einschlägigen aus den 1990er Jahren – weiterhin allein auf den (ggf. durch Auslegung zu ermittelnden) Willen des kommunalen Plangebers abzustellen. Denn bei solchen „jüngeren“ Bebauungsplänen besteht angesichts der ausgebildeten Dogmatik zum Drittschutz durch Bauleitplanung für den Plangeber ohne Weiteres die Möglichkeit, entsprechende Regelungen durch Dokumentation eines entsprechenden Willens (z.B. in der Planbegründung oder in den Abwägungsvorlagen) nachbarschützend auszugestalten. Insbesondere bei neueren Bebauungsplänen, die unter der Geltung des Baugesetzbuchs erlassen worden sind, erscheint es – was im Rahmen der vorliegenden (Eil-) Beschwerdeentscheidung nicht abschließend entschieden werden muss – unter dem Gesichtspunkt der verfassungsrechtlichen Funktionenverteilung zwischen Gerichten als Funktionsträger rechtsprechender Gewalt einerseits und kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften andererseits (vgl. Art. 20 Abs. 3, Art. 28 Abs. 2, Art. 92, Art. 97 Abs. 1 GG) jedenfalls nicht unproblematisch, einer bauleitplanerischen Festsetzung im Wege richterrechtlicher „Korrektur“ unter Berufung auf die „WannseeRechtsprechung“ des Bundesverwaltungsgerichts eine vom Plangeber nicht positiv gewollte Drittschutzwirkung zu unterstellen.
Unabhängig von der voranstehenden Frage können Festsetzungen nach der „Wannsee-Entscheidung“ des Bundesverwaltungsgerichts jedenfalls nur dann über eine nachträgliche subjektivrechtliche Aufladung als nachbarschützend angesehen werden, wenn der Plangeber – unabhängig von einem Willen oder einem Bewusstsein, subjektivrechtlichen Nachbarschutz zu begründen – die Planbetroffenen mit der betroffenen Festsetzung tatsächlich in ein wechselseitiges nachbarliches Austauschverhältnis eingebunden hat. Dies ist hier weder in der Antragsbegründung unter Auseinandersetzung mit dem angegriffenen Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 14. Mai 2020 substantiiert dargelegt worden noch nach Aktenlage ersichtlich. Das Verwaltungsgericht hat sich mit der Frage einer nachträglichen nachbarschützenden Aufladung der von den ausgesprochenen Befreiungen betroffenen Festsetzungen eingehend beschäftigt und dies letztlich verneint. Es hat es nicht bei der Feststellung belassen, dass sich ein Wille der planenden Kommune, den Festsetzungen, von denen befreit wurde, drittschützende Wirkung zukommen zu lassen, weder aus dem Inhalt des Bebauungsplans noch aus dessen Begründung ergebe. Es hat vielmehr auch unter Befassung mit der „Wannsee-Entscheidung“ begründend ausgeführt, dass und warum kein besonderes wechselseitiges nachbarliches Austauschverhältnis besteht, das ggf. eine nachträgliche subjektivrechtliche Aufladung der betroffenen Bebauungsplanfestsetzungen rechtfertigen könnte.
Dem Rücksichtnahmegebot kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängen wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist.
Ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot ergibt sich nicht allein aus der Vielzahl der erteilten Befreiungen. Entscheidend ist vielmehr, ob aufgrund der Belastungswirkungen, die aus den Befreiungen – einzeln wie in der Gesamtwirkung – folgen, eine unzumutbare Betroffenheit des Nachbarn resultiert.