Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 13. Juni 2024 zum Aktenzeichen 1 C 5.23 entschieden, dass das abgeleitete Freizügigkeitsrecht, das ein drittstaatsangehöriger Elternteil eines Unionsbürgerkindes unter bestimmten Voraussetzungen aus Art. 21 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) herleiten kann, nicht voraussetzt, dass diesem kein anderweitiges Aufenthaltsrecht zusteht. Insbesondere steht der Besitz eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts als türkischer Arbeitnehmer dem Erwerb oder Fortbestand des Freiheitszügigkeitsrechts nicht entgegen.
Aus der Pressemitteilung des BVerwG Nr. 32/2024 vom 13.06.2024 ergibt sich:
Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und Vater eines 2011 geborenen Sohnes mit bulgarischer Staatsangehörigkeit. Er wendet sich gegen die Feststellung des Verlusts seines Freizügigkeitsrechts (§ 5 Abs. 4 Freizügigkeitsgesetz/EU). Diese war unter anderem damit begründet worden, der Kläger habe bereits ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 6 Abs. 1 des Assoziationsratsbeschlusses EWG-Türkei Nr. 1/80 (ARB 1/80) als Arbeitnehmer in ordnungsgemäßem Beschäftigungsverhältnis erworben, so dass der minderjährige Unionsbürger bei Versagung eines Freizügigkeitsrechts aus Art. 21 Abs. 1 AEUV nicht von seinem Vater getrennt werde. Die Klage hatte in erster Instanz keinen Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Verlustfeststellung hingegen aufgehoben. Der Kläger besitze ein aus Art. 21 Abs. 1 AEUV folgendes Freizügigkeitsrecht, weil er tatsächlich die Sorge für einen minderjährigen Unionsbürger wahrnehme und diesem Unterhalt gewähre. Der Sohn sei trotz Bezugs von Sozialleistungen aus eigenem Recht freizügigkeitsberechtigt, weil er inzwischen über seine Mutter ein Daueraufenthaltsrecht erworben habe. Das Freizügigkeitsrecht des Klägers aus Art. 21 Abs. 1 AEUV sei nicht dadurch entfallen, dass er ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht erworben habe.
Der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat die Revision des Beklagten zurückgewiesen. Das Berufungsgericht hat im Einklang mit Bundesrecht entschieden, dass der Kläger ein Aufenthaltsrecht aus Art. 21 Abs. 1 AEUV erworben und im maßgeblichen Zeitpunkt noch besessen hat. Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger auch über ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht als türkischer Arbeitnehmer nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 verfügen mag. Für eine Nachrangigkeit der Freizügigkeitsrechte aus Art. 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38/EG gegenüber anderen unionsrechtlichen (oder nationalen) Aufenthaltsrechten bieten die einschlägigen unionsrechtlichen Regelungen auch unter Berücksichtigung ihrer Systematik und Zielsetzung keine ernsthaften Anhaltspunkte. Der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union lässt sich im Gegenteil entnehmen, dass das Bestehen eines Aufenthaltsrechts aus abgeleitetem Unionsrecht lediglich einem Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV entgegensteht, nicht aber einem Aufenthaltsrecht aus Art. 21 AEUV, das den Freizügigkeitsrechten nach der Richtlinie 2004/38/EG gleichsteht. Abgeleitetes Unionsrecht in diesem Sinne sind auch die Beschlüsse des Assoziationsrats EWG-Türkei.