Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 27. April 2021 zum Aktenzeichen 2 BvR 156/21 entschieden, dass die Überstellung eines lettischen Staatsangehörigen zur Strafverfolgung nach Lettland verfassungswidrig ist.
Gegen den Beschwerdeführer besteht ein Europäischer Haftbefehl vom 9. September 2019 zur Strafverfolgung. Danach führen die lettischen Justizbehörden gegen ihn ein Ermittlungsverfahren wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln. Er soll in Riga, Lettland, Betäubungsmittel erworben und weiterverkauft haben.
Mit seinerVerfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 Abs. 1 GG sowie von Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK.
Trotz hinreichender Anhaltspunkte dafür, dass er im Falle seiner Auslieferung in Lettland menschenunwürdigen Haftbedingungen ausgesetzt sein werde, habe das Oberlandesgericht den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt. Das Gericht hätte weitere Informationen, insbesondere auch zu der Haftanstalt, in der er wahrscheinlich nach einer eventuellen Verurteilung inhaftiert werden könnte, einholen müssen. Die tatsächliche Haftraumgröße sei nicht mitgeteilt worden. So sei fraglich, wie diese berechnet werde, ob die Sanitärfläche einberechnet und wie diese abgegrenzt sei. Unklar bleibe auch, ob er in einer Gemeinschaftszelle oder in Einzelhaft untergebracht werden solle, wie groß die tatsächliche Bewegungsfreiheit sei, welche Lichtverhältnisse und ob eine Frischluftzufuhr gewährleistet seien sowie welche Aufschlusszeiten gelten würden. Eine konkrete Zusicherung hinsichtlich der ihn erwartenden Haftbedingungen liege nicht vor. Die Erklärung der lettischen Behörden sei auch nicht hinsichtlich ihrer Belastbarkeit überprüft worden. Die Rechtsfrage, welche Mindesthaftraumgröße für Einzelhaftzellen gälten und inwiefern Aufschlusszeiten relevant seien, hätte dem Gerichtshof der Europäischen Union vorgelegt werden müssen.
Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 4 GRCh.
Aus Art. 4 GRCh folgt für ein mit einem Überstellungsersuchen befasstes Gericht die Pflicht, in zwei Prüfungsschritten von Amts wegen aufzuklären, ob die konkrete Gefahr besteht, dass die zu überstellende Person nach einer Übergabe einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird.
Im zweiten, auf die Situation des Betroffenen bezogenen Prüfungsschritt ist das Gericht verpflichtet, genau zu prüfen, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person im Anschluss an ihre Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund der Bedingungen, unter denen sie inhaftiert sein wird, dort einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt sein wird. Dies erfordert eine aktuelle und eingehende Prüfung der Situation, wie sie sich zum Entscheidungszeitpunkt darstellt. Da das Verbot einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung absoluten Charakter hat, darf die vom Gericht vorzunehmende Prüfung der Haftbedingungen nicht auf offensichtliche Unzulänglichkeiten beschränkt werden, sondern muss auf einer Gesamtwürdigung der maßgeblichen materiellen Haftbedingungen beruhen.
Mit dem zweistufigen Prüfprogramm sind Aufklärungspflichten des mit einem Überstellungsersuchen befassten Gerichts verbunden. Aus Art. 4 GRCh folgt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union die Pflicht, im Einzelfall zu prüfen und durch zusätzliche Informationen aufzuklären, ob das Grundrecht des zu Überstellenden aus Art. 4 GRCh gewahrt ist.
Zunächst muss sich das Gericht auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben über die Haftbedingungen in den Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaats stützen, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffender Mängel belegen können. Für die gründlich vorzunehmende Prüfung, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die zu überstellende Person im Anschluss an ihre Übergabe aufgrund der Haftbedingungen einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt sein wird, muss das Gericht innerhalb der nach Art. 17 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl (im Folgenden: RbEuHb) zu beachtenden Fristen den Ausstellungsmitgliedstaat um die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen zusätzlichen Informationen in Bezug auf die Bedingungen bitten, unter denen die betreffende Person in diesem Mitgliedstaat inhaftiert werden soll. Der Ausstellungsmitgliedstaat ist verpflichtet, die ersuchten Informationen innerhalb der ihm vom ersuchten Mitgliedstaat gesetzten Frist zu übermitteln.
Diese einzuholenden zusätzlichen Informationen sind Voraussetzung dafür, dass die Prüfung einer bestehenden Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung einer Person auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage beruht. Das mit einem Übermittlungsersuchen befasste Gericht muss deshalb die Entscheidung über die Zulässigkeit der Übergabe so lange aufschieben, bis es die zusätzlichen Informationen erhalten hat, die es ihm gestatten, das Vorliegen einer solchen Gefahr auszuschließen. Kann das Vorliegen einer solchen Gefahr nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden, muss das Gericht darüber entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden ist.
Art. 15 Abs. 2 RbEuHb verpflichtet das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht zur Einholung zusätzlicher, für die Übergabeentscheidung notwendiger Informationen. Als Ausnahmebestimmung kann diese Regelung nicht dazu herangezogen werden, die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats systematisch um allgemeine Auskünfte zu den Haftbedingungen in den dortigen Haftanstalten zu ersuchen. Die gerichtliche Aufklärungspflicht bezieht sich nicht auf die allgemeinen Haftbedingungen in sämtlichen Haftanstalten. Unter Berücksichtigung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens und der für den europäischen Rechtshilfeverkehr vorgesehenen Fristen beschränkt sich diese vielmehr auf die Prüfung derjenigen Haftanstalten, in denen die gesuchte Person nach den vorliegenden Informationen wahrscheinlich, sei es auch nur vorübergehend oder zu Übergangszwecken, konkret inhaftiert werden soll.
Hat der Ausstellungsmitgliedstaat eine Zusicherung abgegeben, dass die betroffene Person unabhängig von der Haftanstalt, in der sie im Ausstellungsmitgliedstaat inhaftiert wird, keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erfahren werde, muss sich das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht auf eine solche konkrete Zusicherung zumindest dann verlassen, wenn keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Haftbedingungen in einer bestimmten Haftanstalt gegen Art. 4 GRCh verstoßen. Auch eine Zusicherung des Ausstellungsmitgliedstaats entbindet das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht aber nicht von der Pflicht, zunächst eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, um so die Belastbarkeit einer Zusicherung einschätzen zu können. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände darf das Gericht auf der Grundlage konkreter Anhaltspunkte feststellen, dass für die betroffene Person trotz der Zusicherung eine echte Gefahr besteht, aufgrund der Bedingungen ihrer Inhaftierung im Ausstellungsmitgliedstaat einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh unterworfen zu werden.
Nach diesen Maßstäben hält die angegriffene Entscheidung einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Das Hanseatische Oberlandesgericht ist seiner Verpflichtung nach Art. 4 GRCh, auf der zweiten Prüfungsstufe im Einzelfall zu prüfen und durch zusätzliche Informationen aufzuklären, ob der Beschwerdeführer nach seiner Überstellung in einer lettischen Haftanstalt einer Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sein wird, nicht hinreichend nachgekommen.
Die Beschränkung der gerichtlichen Prüfung auf die Haftanstalt der Untersuchungshaft wird den genannten Anforderungen nicht gerecht, weil die Einzelfallprüfung auf die Haftbedingungen der Haftanstalten zu beziehen ist, in denen der Beschwerdeführer nach den vorliegenden Informationen wahrscheinlich, sei es auch nur vorübergehend oder zu Übergangszwecken, konkret inhaftiert werden soll. Auch die lettischen Behörden gehen nach ihrer Mitteilung bei einer Verurteilung des Beschwerdeführers von einer Unterbringung im geschlossenen oder im halboffenen Vollzug einer lettischen Haftanstalt aus, selbst wenn noch keine konkrete Anstalt benannt werden kann.
Ferner lassen sich der Mitteilung der lettischen Behörden in Bezug auf die vom Oberlandesgericht aufgrund von CPT-Berichten beziehungsweise eines Berichts von Amnesty International erfragten Haftbedingungen, insbesondere hinsichtlich Luftfeuchtigkeit, Belüftung und ausreichendem Tageslicht, aber auch in Bezug auf die Aufschlusszeiten keine konkreten Informationen entnehmen. Daher fehlt es insoweit an einer hinreichenden Tatsachengrundlage für die Einzelfallprüfung des Gerichts. Eine solche Prüfung war nicht etwa entbehrlich, weil das Oberlandesgericht die Mitteilung der lettischen Behörden als Zusicherung der darin beschriebenen Haftbedingungen verstanden hat.
Zwar ist eine rechtsverbindliche Zusicherung vom ersuchenden Mitgliedstaat grundsätzlich geeignet, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit einer Überstellung auszuräumen. Der Mitteilung der lettischen Behörden lässt sich indes keine auf den konkreten Fall zugeschnittene Zusicherung hinsichtlich der Haftbedingungen entnehmen, die der Beschwerdeführer im Falle seiner Überstellung unabhängig von der Haftanstalt zu erwarten hat, in der er in Lettland inhaftiert werden wird. Die Ausführungen beschränken sich vielmehr auf eine allgemeine Wiedergabe der nach der lettischen Gesetzeslage vorgeschriebenen Haftbedingungen und enthalten keine auf den Beschwerdeführer bezogenen verbindlichen Erklärungen. Damit wird der Zweck einer konkreten Zusicherung nicht erfüllt.
Darüber hinaus hat es das Oberlandesgericht versäumt, die von den lettischen Behörden abgegebene Erklärung hinsichtlich ihrer Belastbarkeit zu überprüfen. Selbst wenn die Mitteilung als eine konkrete, auf den Beschwerdeführer bezogene Zusicherung ausgelegt werden könnte, entbindet dies das Gericht nicht von der Pflicht, zunächst eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, um so die Belastbarkeit einer Zusicherung einschätzen zu können. Hieran fehlt es.