Das Landgericht Oldenburg hat mit Beschluss vom 07.11.2022 zum Aktenzeichen 4 Qs 368/22 auch bei einer Trunkenheitsfahrt mit einem E-Scooter die Fahrerlaubnis entzogen werden kann.
Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis setzt nach § 111a StPO voraus, dass dringende Gründe für die Annahme vorhanden sind, die Fahrerlaubnis werde gem. § 69 StGB entzogen werden. Das ist hier der Fall. Nach § 69 Abs. 1 StGB entzieht das Gericht die Fahrerlaubnis u. a. dann, wenn jemand wegen einer rechtswidrigen Tat, die er bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen hat, verurteilt wird und sich aus der Tat ergibt, dass er zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist. Ist die rechtswidrige Tat eine Trunkenheit im Verkehr nach § 316 StGB, ist der Täter in der Regel als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen (§ 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB). Im Einzelnen:
Gegen den Beschuldigten besteht der dringende Tatverdacht einer Trunkenheit im Verkehr nach § 316 StGB.
Nach § 316 StGB wird bestraft, wer im Verkehr ein Fahrzeug führt, obwohl er infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen, wobei für Kraftfahrzeugführer bei einer Blutalkoholkonzentration (im Folgenden BAK) von 1,1 Promille unwiderleglich eine sog. absolute Fahruntüchtigkeit vorliegt (Fischer, § 316 StGB, Rn. 13, 24 f. m. w. N.).
Nach Aktenlage befuhr der Beschuldigte am xx.xx.2022 gegen 04:05 Uhr als Sozius auf einem Elektrokleinstfahrzeug (im Folgenden E-Scooter) der Firma Bolt den Radweg der Ammerländer Heerstraße auf Höhe der Hausnummer xx in unzulässiger, stadtauswärtiger Richtung, wobei er sich – trotz seiner auf dem Roller hinteren Position – am Lenker festhielt. Die Fahrt wurde durch die Polizeistreife POK xxx und PHK xxx beendet. Eine Blutentnahme am xx.xx.2022 um 04:40 Uhr ergab für den Beschuldigten eine BAK von 1,2 Promille. Dieser Sachverhalt erfüllt den Straftatbestand des § 316 StGB aus den nachfolgend ausgeführten Gründen:
E-Scooter sind – wie die Klarstellung in § 1 Abs. 1 der Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung (eKFV) belegt – Kraftfahrzeuge und unterscheiden sich insoweit von Fahrrädern. Sie unterliegen – anders als Fahrräder – den für Kraftfahrzeuge geltenden Regelungen im Straßenverkehrsrecht, soweit nicht – insbesondere in der eKFV – Ausnahme-Regelungen gelten. Sowohl im Hinblick auf die Leistungsanforderungen an den Fahrer als auch hinsichtlich des Gefährdungspotenzials stehen E-Scooter den Kleinkrafträdern, insbesondere „Mofas“, deutlich näher als den Fahrrädern. Die Leistungsanforderungen sind sogar ganz erheblich und übersteigen diejenigen beim Fahrradfahren deutlich, insbesondere auf Grund ihrer Bauart (vgl. LG Flensburg, 23.09.2021 – V Qs 42/21). E-Scooter zeichnen sich nämlich durch sehr kleine, kaum gefederte Räder, eine kleine Lenkstange und eine Stehfläche – anstelle einer Sitzfläche – aus.
Diese Faktoren erschweren Ausweichmanöver, die im Straßenverkehr jederzeit erforderlich werden können, erheblich. Im Allgemeinen erfordert das sichere Fahren mit einem solchen Roller einige Geschicklichkeit und insbesondere eine stetige Balance. Es besteht eine im Vergleich zu Fahrrädern erhöhte Sturz- und Umkipp-Gefahr. Aufgrund der kleinen, kaum gefederten Räder sind E-Scooter zudem für kleine Fahrbahnunebenheiten besonders anfällig, was eine weitere (Sturz- bzw.) Gefahrenquelle darstellt. Das Gefährdungspotenzial ist auch im Allgemeinen erheblich höher als dasjenige von Fahrrädern.
Zwar weisen solche Roller üblicher Weise ein Gewicht von nur ca. 20 Kilogramm auf, was jedenfalls in etwa dem Gewicht eines Fahrrades entspricht. Jedoch sind E-Scooter deutlich kleiner als Fahrräder, so dass sie – durch andere Verkehrsteilnehmer – leichter übersehen werden können. Da sie über im Wesentlichen geräuschlos arbeitende Elektromotoren verfügen, wird dieser Umstand auch nicht etwa durch eine gute akustische Wahrnehmbarkeit ausgeglichen. Vielmehr ist das Herannahen eines E-Scooters – auch bei Höchstgeschwindigkeit, die immerhin 20 km/h beträgt – akustisch kaum wahrnehmbar. Anders als bei einem Fahrrad kann diese Höchstgeschwindigkeit auch schnell und mühelos erreicht werden. E-Scooter können im Allgemeinen sehr stark beschleunigt werden und zwar durch bloßen Knopfdruck und völlig unabhängig von dem körperlichen Einsatz und der körperlichen Verfassung des Nutzers. Ein erheblich alkoholisierter Fahrradfahrer muss es demgegenüber durch erheblichen körperlichen Einsatz zunächst einmal schaffen, entsprechend zu beschleunigen; für einen E-Scooter-Nutzer ist dies mühelos möglich.
Der Beschuldigte hat den E-Scooter zur Tatzeit auch „geführt“ i. S. d. § 316 StGB.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 18, 6 [8 f.]; BGHSt 35, 390 [393]; BGHSt 36, 343) ist Führer eines Fahrzeugs derjenige, der sich selbst aller oder wenigstens eines Teiles der wesentlichen technischen Einrichtungen des Fahrzeuges bedient, die für seine Fortbewegung bestimmt sind, also das Fahrzeug unter bestimmungsgemäßer Anwendung seiner Antriebskräfte unter eigener Alleinoder Mitverantwortung in Bewegung setzt oder das Fahrzeug unter Handhabung seiner technischen Vorrichtungen während der Fahrbewegung durch den öffentlichen Verkehrsraum ganz oder wenigstens zum Teil lenkt. Danach ist Führer eines Fahrzeuges nicht nur derjenige, der alle für die Fortbewegung des Fahrzeugs erforderlichen technischen Funktionen ausübt, sondern auch, wer nur einzelne dieser Tätigkeiten vornimmt, jedenfalls solange es sich dabei um solche handelt, ohne die eine zielgerichtete Fortbewegung des Fahrzeugs im Verkehr unmöglich wäre (wie z. B. das Bremsen oder Lenken).
Diese überzeugenden Voraussetzungen, denen sich die Kammer anschließt, werden durch das Verhalten des Beschuldigten erfüllt.
Der Beschuldigte hat eingeräumt, dass er „die Hände am Lenker“ gehabt habe und diesen „festhielt“, wobei er allerdings „keine Lenkbewegungen“ ausgeführt habe. Allein das Festhalten des Lenkers eines E-Scooters während der Fahrt durch einen Sozius stellt – unabhängig von aktiven Lenkbewegungen nach links oder rechts, um eine Kurve zu fahren – ein Lenken des Fahrzeugs und damit das „Führen“ eines Fahrzeugs i. S. d. § 316 StGB dar. Denn das Festhalten des Lenkers eines E-Scooters führt dazu, dass dieser in eine ganz bestimmte Richtung gelenkt wird: nämlich geradeaus. Dieses Inder-Spur-Halten des E-Scooters ist ein genuiner Lenkvorgang, weil ein kontrolliertes Fortbewegen des E-Scooters durch den Verkehrsraum, wenn beide Personen auf dem Roller sich am Lenker festhalten, nur durch ein Zusammenwirken durch beide Fahrer möglich ist. Das bedeutet auch, dass der E-Scooter in einer Art „Mittäterschaft“ von beiden Fahrern gleichzeitig geführt wird.
Dass nach der Einlassung des Beschuldigten lediglich der vordere Fahrer Einfluss auf die Geschwindigkeit gehabt habe, ist nach der vorstehenden Rechtsprechung des BGH – welcher sich die Kammer anschließt – ohne Belang. Denn ein „Führen“ des Fahrzeugs kann hiernach auch dann vorliegen, wenn einzelne Bedienfunktionen – wie hier das Geradeauslenken – aufgeteilt werden. Dass sich der Beschuldigte nach den Ausführungen der Beschwerdebegründung über die Strafbarkeit der Handlung geirrt habe, stellt einen vermeidbaren Verbotsirrtum dar.
Die Kammer würde ein Festhalten am Lenker eines E-Scooters auch dann als Lenken des Fahrzeuges einordnen, wenn – was hier weder vorgetragen noch sonst ersichtlich ist – der Sozius den Verkehr selbst gar nicht wahrnehmen kann, weil der vordere Fahrer des E-Scooters deutlich größer ist und der Sozius über diesen nicht hinwegsehen kann. Denn das Festhalten des Lenkers eines E-Scooters während der Fahrt sorgt – unabhängig von der Beobachtungsmöglichkeit des Verkehrs – für ein In-der-Spurhalten. Ein solches Verhalten stellte hernach vielmehr eine Geradeausfahrt im „Blindflug“ dar, die umso gefährlicher wäre, weil plötzliche Verkehrsvorgänge durch den Sozius, der auf die Lenkung einwirkt, optisch überhaupt nicht wahrgenommen werden könnten.
Diese Bewertung durch die Kammer hält auch dem Vergleich mit einem Sozius auf einem Kraftrad stand, welcher aus überzeugenden Gründen mangels eigenverantwortlicher Übernahme einer für die Fahrbewegung notwendigen technischen Teilfunktion nicht als „Führer“ eines Kraftrades angesehen wird (BGH, NZV 1990, 157 [157]). Denn anders als der Soziusfahrer eines Kraftrades beeinflusst der Soziusfahrer eines E-Scooters, der sich an der Lenkstange festhält, die Fahrtrichtung des Fahrzeugs unmittelbar. Vergleichbar mit dem Soziusfahrer eines Kraftrades wäre der Soziusfahrer eines E-Scooters nach Überzeugung der Kammer lediglich dann, wenn er sich – wie im Regelfall der Soziusfahrer eines Kraftrades – an seinem Vordermann festhielte (etwa am Bauch). Das ist hier allerdings ausdrücklich nicht der Fall gewesen.
Die Einordnung durch die Kammer steht auch mit dem Sinn und Zweck des § 316 StGB in Einklang. Denn diese Vorschrift schützt als abstraktes Gefährdungsdelikt u. a. das Universalinteresse an der Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs gegen verkehrsinterne Bedrohungen von fahruntüchtigen Fahrzeugführern (z. B.: Kudlich, in: BeckOK § 316 StGB, Rn. 1 f. [Stand: 01.08.2022]). Die Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs wird durch die unmittelbare Einwirkungsmöglichkeit eines fahruntüchtigen Sozius auf einem E-Scooter, der sich an dem Lenker festhält, erheblich gefährdet, weil er durch bewusste oder unbewusste Lenkbewegungen – sei es durch Zur-Seite-lenken oder Geradeaus-lenken – Kollisionen mit anderen Verkehrsteilnehmern hervorrufen kann, wenn er hierdurch den Lenkbewegungen des anderen Fahrers entgegenwirkt oder diese – bewusst oder unbewusst – verstärkt.
Der Beschuldigte war zur Tatzeit auch absolut fahruntüchtig.
Eine absolute Fahruntüchtigkeit ist beim Führen von E-Scootern aufgrund ihrer Einordnung als Kraftfahrzeuge bereits ab einer BAK von 1,1 Promille anzunehmen und nicht etwa – wie bei Fahrten mit einem Fahrrad – ab 1,6 Promille (vgl. BayObLG, 24.07.2020 – 205 StRR 216/20; LG Stuttgart, 12.03.2021 – 18 Qs 15/21; LG München, 29.11.2019 – 26 Qs 51/19, jeweils m. w. N.).
Der Beschuldigte hatte zur Tatzeit eine BAK von 1,2 Promille. Damit war er unwiderleglich absolut fahruntüchtig.
Nach Aktenlage wurde dem Beschuldigten bereits 35 Minuten nach der Tat eine Blutprobe entnommen. Für diese Blutprobe wurde eine BAK von 1,2 Promille festgestellt. Die Tatzeit-BAK ist in einem solchen Fall im Wege der Rückrechnung festzustellen, wobei ein stündlicher Abbauwert von 0,1 Promille zugrunde zu legen ist. Um bei längerer Resorptionsdauer jede Benachteiligung für den Täter auszuschließen, sind die ersten zwei Stunden nach Trinkende grundsätzlich von der Rückrechnung auszunehmen (BGH 25, 250; Fischer, § 316 StGB Rn. 19 m. w. N.). Das führt vorliegend dazu, dass die gemessene BAK der Tatzeit-BAK entspricht. Sie wird durch Rückrechnung in diesem Fall nicht erhöht.
Dass bei dem Beschuldigten am Tatort eine Atemalkoholkonzentration (AAK) von 0,95 Promille gemessen wurde, ist strafrechtlich ohne Belang. Die AAK kann lediglich für OWi-Tatbestände eine Rolle spielen (Fischer, § 316 StGB, Rn. 23 f.). Für die Feststellung der absoluten Fahruntüchtigkeit können AAK-Werte nicht herangezogen werden (Fischer, § 316 StGB, Rn. 23). Ausfallerscheinungen spielen für die Feststellung der absoluten Fahruntüchtigkeit bei einer BAK von 1,2 Promille keine Rolle.
Die Blutentnahme erfolgte auch rechtmäßig. Soweit mit der Beschwerdebegründung vorgetragen wird, dass der Beschuldigte nicht ordnungsgemäß „über die Erforderlichkeit der Blutentnahme“ belehrt worden sei, sieht die StPO eine solche Belehrung nicht vor.
Dass auf dem Entnahmeprotokoll, wie mit der Beschwerdebegründung vorgebracht, nicht festgehalten wurde, ob die Entnahme freiwillig oder unfreiwillig erfolgte, ist unerheblich. Hierzu könnten in der Hauptverhandlung der Arzt oder die Polizeizeugen voraussichtlich Angaben machen. Unverwertbar wird die Blutprobe durch die unterbliebene Angabe nicht. Denn POK xxx war aufgrund des Anfangsverdachts einer Straftat nach § 316 StGB gemäß § 81a Abs. 2 S. 2 StPO dazu befugt, die Entnahme einer Blutprobe zu Beweiszwecken – auch gegen den Willen des Beschuldigten – anzuordnen. Eine freiwillige Mitwirkung des Beschuldigten war nicht notwendig.
Der Beschuldigte hat das Fahrzeug auch vorsätzlich geführt. Hinsichtlich seiner Fahruntüchtigkeit handelte der Beschuldigte jedenfalls fahrlässig.
Ist die rechtswidrige Tat – wie hier – eine Trunkenheit im Verkehr nach § 316 StGB, ist der Täter in der Regel als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen (§ 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB).
Der bloße Umstand, dass eine Trunkenheitsfahrt im Sinne des § 316 StGB mittels eines „E-Scooters“ erfolgt, rechtfertigt keine Abweichung von der Regelwirkung des § 69 Abs. 2 StGB (vgl. BayObLG, 24.07.2020 – 205 StRR 216/20; LG Stuttgart, 12.03.2021 – 18 Qs 15/21; LG München, 29.11.2019 – 26 Qs 51/19, jeweils m. w. N.). Nach § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB ist der Täter einer Trunkenheitsfahrt in der Regel als ungeeignet zum Führen eines Kraftfahrzeugs anzusehen, ohne dass hier zwischen verschiedenen Arten von Kraftfahrzeugen differenziert wird. Diese Regelvermutung kann im Einzelfall zwar widerlegt sein. Dazu müssen jedoch besondere Umstände objektiver und subjektiver Art gegeben sein, die deutlich gegen die Vermutung sprechen. Einen solchen Umstand – gleichsam pauschal – in dem Führen eines EScooters zu sehen, widerspräche dem durch den Gesetzgeber festgelegten Regel- Ausnahme-Verhältnis.
Auch andere besondere Umstände in dem oben genannten Sinne, welche die Regelvermutung aus § 69 Abs. 2 StGB widerlegen könnten, liegen nicht vor. Ein besonderer Umstand, der eine Ausnahme von der Regelwirkung des § 69 Abs. 2 StGB rechtfertigen würden, ergibt sich insbesondere auch nicht daraus, dass der Beschuldigte „lediglich“ als hinterer Fahrer bzw. Sozius auf dem Roller „mitgefahren“ ist. Denn das Fahren eines Rollers der Firma Bolt mit zwei Personen ist bereits in nüchternem Zustand in erheblichem Maße gefährlich, worauf durch das Leihunternehmen selbst mit Nachdruck hingewiesen wird. Die besondere Gefährlichkeit folgt aus den bereits oben ausgeführten Gründen zur Geschicklichkeit und Balance, insbesondere der beengten bzw. begrenzten Stand- und Trittfläche. Dieses bereits in nüchternen Zustand in höchstem Maße leichtsinnige Verhalten rechtfertigt daher nach Auffassung der Kammer keine Ausnahme von der Regel, sondern belegt – ganz im Gegenteil – nachdrücklich, dass der Beschuldigte als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen ist, weil er durch seine Handlung das erforderliche Verantwortungsbewusstsein vermissen ließ.
Die angefochtene Maßnahme ist angesichts des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit auch nicht unverhältnismäßig. Dass der Beschuldigte durch sie in besonderer Weise belastet wäre, ist nicht ersichtlich.