Trennung des Beschwerdeführers von seinen Kindern zur Durchführung eines Visumverfahrens in Nigeria verfassungswidrig

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 22. Dezember 2021 zum Aktenzeichen 2 BvR 1432/21 entschieden, dass die Trennung des Beschwerdeführers von seinen Kindern zur Durchführung eines Visumverfahrens in Nigeria verfassungswidrig ist.

Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen es dem Beschwerdeführer zuzumuten ist, zur Durchführung eines Visumverfahrens in seinem Heimatland die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen und damit eine wenigstens vorübergehende Trennung von seinen hier aufenthaltsberechtigten Kindern hinzunehmen.

Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, etwa weil das Kind deutscher Staatsangehörigkeit und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Es kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte. Bei einer Vater-Kind-Beziehung kommt hinzu, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich wird, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes haben kann (vgl. BVerfGK 7, 49 <56>; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2006 – 2 BvR 1935/05 -, Rn. 17, und vom 5. Juni 2013 – 2 BvR 586/13 -, Rn. 13).

Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG ist es grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen (vgl. BVerfGK 13, 26 <27 f.>). Das Visumverfahren bietet Gelegenheit, die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen zu überprüfen. Das Aufenthaltsgesetz trägt dabei dem Gebot der Verhältnismäßigkeit Rechnung, indem es unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG im Einzelfall erlaubt, von dem grundsätzlichen Erfordernis einer Einreise mit dem erforderlichen Visum (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) abzusehen. Der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland begehrt, regelmäßig hinzunehmen (vgl. BVerfGK 13, 562 <567>).

Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen (vgl. BVerfGE 56, 363 <384>; 79, 51 <63 f.>). Eine auch nur vorübergehende Trennung kann nicht als zumutbar angesehen werden, wenn das Gericht keine gültige Prognose darüber anstellt, welchen Trennungszeitraum der Betroffene realistischerweise zu erwarten hat. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht können die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere dann haben, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BVerfGK 14, 458 <465>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2006 – 2 BvR 1935/05 -).

Die Dichte der verfassungsgerichtlichen Kontrolle muss dem Rang und der Bedeutung Rechnung tragen, die das Grundgesetz der Familie in ihren verschiedenen Gestaltungsformen und Funktionen als einem gegen den Staat abgeschirmten und die Vielfalt der Freiheitskonkretisierungen schützenden Autonomiebereich beimisst (vgl. BVerfGE 76, 1 <51 ff.>; 80, 81 <93 f.>). Bei der Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen prüft das Bundesverfassungsgericht daher, ob Grundlage und Abwägungsergebnis dem sich aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG ergebenden Gebot gerecht werden, die ehelichen und familiären Bindungen in angemessener Weise zu berücksichtigen und ob die notwendige Abwägung stattgefunden hat (vgl. BVerfGE 76, 1 <50 f.>).

Daran gemessen hat der Verwaltungsgerichtshof bei der Frage, ob dem Beschwerdeführer eine einstweilige Duldung auf der Grundlage des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu erteilen ist, die möglichen Beeinträchtigungen von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG nicht hinreichend berücksichtigt. Der Verwaltungsgerichtshof ist davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer einen Anordnungsanspruch nicht in genügender Weise glaubhaft gemacht und insbesondere nicht aufgezeigt habe, dass die mit der Nachholung des Visumverfahrens verbundene Trennung für ihn unzumutbar wäre. Das genügt angesichts der bestehenden Ungewissheiten nicht, um die Zumutbarkeit der Trennung des Beschwerdeführers von seiner Familie infolge der Abschiebung – insbesondere aus der Perspektive seiner Kinder – in verfassungsmäßig tragfähiger Weise zu beurteilen.

Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs erweist sich bereits deshalb als verfassungsrechtlich unzureichend, weil sie nicht auf einer gültigen Prognose beruht. Sie begründet nicht hinreichend, warum die Verweisung des Beschwerdeführers auf die Nachholung des Visumverfahrens vom Ausland aus eine lediglich vorübergehende und keine dauerhafte Trennung für den Beschwerdeführer und seine Kinder zur Folge habe (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Dezember 2021 – 2 BvR 1333/21 -, Rn. 51 ff.).

Eine solche Begründung war von Verfassungs wegen geboten. Die Fachgerichte können von ihr lediglich absehen, wenn es im konkreten Fall mit Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG vereinbar ist, dem Ausländer und seinem Kind die Lebensgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland auf Dauer zu verwehren, etwa weil die Familiengemeinschaft auch außerhalb der Bundesrepublik Deutschland in zumutbarer Weise gelebt werden kann (vgl. BVerfGK 13, 562 <567 f.> sowie BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. August 2003 – 2 BvR 1064/03 -, juris, Rn. 6 f.) oder weil die dauerhafte Trennung der Familie ausnahmsweise zumutbar ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. August 1994 – 2 BvR 1542/94 -, juris, Rn. 11 f.). Eine derartige Feststellung hat der Verwaltungsgerichtshof im vorliegenden Fall jedoch nicht getroffen.

Der Verwaltungsgerichtshof geht vielmehr davon aus, dass eine dauerhafte Trennung nicht zu erwarten sei, und begründet dies lediglich mit dem Argument, dass dem Beschwerdeführer gemäß § 36 Abs. 2 AufenthG ein Visum erteilt werden könne. Dass dessen Erteilung an hohe Hürden gebunden ist und die Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte voraussetzt, wofür die höchstrichterliche Rechtsprechung verlangt, dass der schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann (vgl. BVerwGE 147, 278 <281 f. Rn. 11 ff.>; vgl. hierzu auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Juni 2016 – 2 BvR 748/13 -, juris, Rn. 13), findet in der Prognose des Verwaltungsgerichtshofs jedoch keinen Niederschlag.

Eine außergewöhnliche Härte kann nur unter Berücksichtigung aller im Einzelfall relevanten, auf die Notwendigkeit der Herstellung oder Erhaltung der Familiengemeinschaft bezogenen konkreten Umstände festgestellt werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Juni 2016 – 2 BvR 748/13 -, Rn. 13; BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 – 1 C 15/12 -, juris, Rn. 12; Urteil vom 18. April 2013 – 10 C 9.12 -, juris, Rn. 23; Hailbronner, in: ders., Ausländerrecht, § 36 AufenthG Rn. 16 <1. März 2020>). Dabei sind zwar Bedeutung und Tragweite von Art. 6 Abs. 1 GG zu berücksichtigen. Die Schutzwirkungen dieses Grundrechts werden jedoch durch das jeweilige Gewicht der familiären Bindungen beeinflusst (vgl. Hailbronner, in: ders., Ausländerrecht, § 36 AufenthG Rn. 13 <1. März 2020>), wobei alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind, auch die Auswirkungen, die eine Verlegung eines gemeinsamen Wohnsitzes ins Ausland für alle der familiären Lebensgemeinschaft angehörenden Familienmitglieder hätte (vgl. zur sogenannten „Patchworkfamilie“ BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 – 1 C 15/12 -, juris, Rn. 14 ff.; Hailbronner, in: ders., Ausländerrecht, § 36 AufenthG Rn. 16 <1. März 2020>).

Die Erteilung des Visums nach § 6 Abs. 3 in Verbindung mit § 36 Abs. 2 AufenthG liegt im Ermessen der zuständigen Behörde, vorliegend des Generalkonsulats in Lagos. Neben den Voraussetzungen des § 36 Abs. 2 AufenthG müssen in der Regel auch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG vorliegen. Die zuständige Behörde könnte die Erteilung des Visums versagen, weil sie das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 AufenthG verneint, etwa weil sie zum Ergebnis kommt, dass die familiäre Lebensgemeinschaft im Ausland fortgeführt werden kann (dazu vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 – 1 C 15/12 -, juris, Rn. 14 ff.), weil sie das Vorliegen einer Regelerteilungsvoraussetzung verneint, beispielsweise weil der Lebensunterhalt nicht gesichert ist (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 – 10 C 9/12 -, juris, Rn. 23) oder weil – etwa wegen eines nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoßes gegen Rechtsvorschriften – ein Ausweisungsinteresse besteht. Zwar kann bei Vorliegen eines Ausnahmefalls von einer Regelerteilungsvoraussetzung abgesehen werden (vgl. Samel, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 5 AufenthG Rn. 8 ff.). Ein solcher Ausnahmefall liegt auch dann vor, wenn etwa wegen Art. 6 GG die Erteilung eines Visums zum Familiennachzug geboten ist (vgl. BVerfGK 11, 179 <186>; BVerwG, Urteil vom 26. August 2008 – 1 C 32/07 -, juris, Rn. 27 ff.); allerdings muss zumindest nach der Rechtsprechung einzelner Oberverwaltungsgerichte auch dann das in § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG normierte Wohnraumerfordernis erfüllt sein (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 5. Dezember 2018 – OVG 3 B 8.18 -, juris, Rn. 26 ff.). Diese Unwägbarkeiten verringern die Wahrscheinlichkeit, dass dem Beschwerdeführer auch tatsächlich ein Visum erteilt wird, und müssen daher Eingang in die vom Verwaltungsgerichtshof anzustellende Prognose finden.