Der Thüringer Verfassungsgerichtshof in Weimar hat am 01.03.2021 zum Aktenzeichen VerfGH 18/20 entschieden, dass die Thüringer Verordnung zur Freigabe bislang beschränkter Bereiche und zur Fortentwicklung der erforderlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 vom 12.05.2020 (GVBl. S. 153), zuletzt geändert durch die Zweite Verordnung zur Änderung der Thüringer SARS-CoV-2-Maßnahmenfortentwicklungsverordnung vom 04.06.2020 (GVBl. S. 265) sowie die Regelungen in den Nummern 1, 3, 4 und 7 des § 14 Abs. 3 der Thüringer Verordnung über grundlegende Infektionsschutzregeln zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 vom 09.06.2020 (GVBl. S. 269) und die Regelungen in den Nummern 1, 4, 5 und 8 des § 14 Abs. 3 der Zweiten Thüringer Verordnung über grundlegende Infektionsschutzregeln zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 vom 07.07.2020 (GVBl. S. 349), zuletzt geändert durch Artikel 3 der Thüringer Verordnung zur Fortschreibung der erforderlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 vom 07.11.2020 (GVBl. S. 551) nichtig sind.
Aus der Pressemitteilung des Thür. VerfGH vom 01.03.2021 ergibt sich:
Die Antragstellerin, die Fraktion der Alternative für Deutschland im Thüringer Landtag, hat die Thüringer SARS-CoV-2-Maßnahmenfortentwicklungsverordnung, die Thüringer SARS-CoV-2-Infektionsschutz-Grundverordnung und die Zweite Thüringer SARS-CoV-2-Infektionsschutz-Grundverordnung jeweils in ihrer Gesamtheit im Wege der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 80 Abs. 1 Nr. 4 ThürVerf i.V.m. §§ 11 Nr. 4, 42 ThürVerfGHG angegriffen. Soweit die Antragstellerin nachträglich auch die Thüringer Verordnung über außerordentliche Sondermaßnahmen zur Eindämmung einer sprunghaften Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 (Thüringer SARS-CoV-2-Sondereindämmungsmaßnahmenverordnung – ThürSARSCoV-2-SonderEindmaßnVO) vom 31. Oktober 2020 zum Gegenstand des abstrakten Normenkontrollverfahrens machte, wurde dieser Antrag in der mündlichen Verhandlung vom 11. November 2020 durch entsprechenden Beschluss des Verfassungsgerichtshofs abgetrennt und wird in einem gesonderten Verfahren (Az.: VerfGH 110/20) fortgeführt.
Die Antragstellerin hält die von ihr angegriffenen Verordnungen für sowohl formell als auch materiell mit der Thüringer Verfassung unvereinbar und deshalb nichtig. Angesichts des Ausmaßes der zur Eindämmung des Corona-Virus erlassenen Ge- und Verbote reiche die Verordnungsermächtigung des Infektionsschutzgesetzes nicht mehr aus.
Der Thüringer Verfassungsgerichtshof kommt in seiner Entscheidung zu dem Ergebnis, dass die Bestimmungen des § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG jedenfalls für den im vorliegenden Verfahren relevanten Zeitraum bis zum 11. November 2020 eine ausreichende Verordnungsermächtigung auch für nicht unerhebliche Grundrechtseingriffe darstellen. Für diesen Zeitraum geht er noch nicht von einer Verletzung des Wesentlichkeitsvorbehalts und damit der Grenzen des parlamentarischen Beurteilungs- und Gestaltungsspielraums aus. Bei Bestehen einer Gefährdungslage mit erheblichen prognostischen Unsicherheiten ist der Rückgriff auf die infektionsschutzrechtliche Generalklausel für eine Übergangszeit hinzunehmen.
Der Thüringer Verfassungsgerichtshof betont in seiner Entscheidung, dass seine grundrechtliche Kontrolldichte im vorliegenden Fall eingeschränkt ist. Er kann seine eigenen Einschätzungen und Schlussfolgerungen nicht an die Stelle des Ermessens des Verordnungsgebers treten lassen. Diesem kommt sowohl in tatsächlicher Hinsicht als auch im Hinblick auf die Wahl der Mittel vorliegend ein weiter Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum zu. Der Verordnungsgeber sah sich einer neuartigen Entscheidungssituation gegenüber, die sich innerhalb sehr kurzer Zeit dynamisch veränderte. Zugleich realisierten sich außerordentliche Risiken für die Bevölkerung, während die Beurteilungsgrundlagen für die politischen und rechtlichen Entscheidungsprozesse wissenschaftlich noch nicht vollständig abgesichert waren. Für den Thüringer Verfassungsgerichtshof bestehen keine Anhaltspunkte, dass der Verordnungsgeber – gestützt auf die Einschätzungen des Robert-Koch-Instituts – mit seinen Grundannahmen zur Risikoeinschätzung den Bereich der Rechtsordnung des Bundes verlassen und Landesrecht ohne Rechtsetzungsbefugnis geschaffen hat. Die Annahmen des Verordnungsgebers, dass die durch die Antragstellerin zur Überprüfung vorgelegten Maßnahmen objektiv dazu geeignet sind, die Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 zu verzögern, sind weder offensichtlich fehlerhaft noch unvertretbar.
Die Thüringer SARS-CoV-2-Maßnahmenfortentwicklungsverordnung musste der Thüringer Verfassungsgerichtshof aus formalen Gründen für nichtig erklären, weil sie nicht von einem formell ordnungsgemäß ermächtigten Verordnungsgeber erlassen worden war. Die ThürIfSG-ZustVO, mit welcher die Zuständigkeit der Landesregierung zum Verordnungserlass nach dem Infektionsschutzgesetz auf das Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie übertragen wurde, entsprach bis zum 10. Juni 2020 nicht den Anforderungen des Zitiergebots. Die Ermächtigung zur Subdelegation wurde in der Verordnung nicht als Rechtsgrundlage angegeben.
Die Bußgeldregelungen hinsichtlich der von der Antragstellerin angegriffenen Maßnahmen der Rechtsverordnungen verstoßen gegen das aus Art. 44 Abs. 1 Satz 2 ThürVerf i.V.m. Art. 103 Abs. 2 GG folgende besondere Bestimmtheitsgebot und sind deshalb nichtig.
Der Thüringer Verfassungsgerichtshof weist in seiner Entscheidung ausdrücklich darauf hin, dass die den angegriffenen Verordnungen zeitlich nachfolgenden Verordnungen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 nicht Gegenstand dieses Verfahrens waren, weshalb seine Entscheidung auch keine Aussagen zur Verfassungsmäßigkeit der dortigen Bußgeldbestimmungen trifft.
Die Entscheidung ist bezüglich der Entscheidungsformeln und einzelner Begründungselemente mit unterschiedlichen Mehrheiten ergangen; Einzelheiten hierzu werden am Ende des Urteils aufgeführt.