Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 07.02.2022 zum Aktenzeichen 1 BvR 1655/21 entschieden, dass eine telefonische Anhörung des Jugendlichen bei Sorgerechtsentzug verfassungswidrig sein dürfte, allerdings kann der Elternteil keine Verfassungsbeschwerde für den Jugendlichen erheben.
Die Verfassungsrichter bezeichnen die Gestaltung des Verfahrens durch das Amts- und das Oberlandesgericht als verfassungsrechtlich bedenklich.
So dürfte es mit dem maßgeblichen Fachrecht nicht ohne Weiteres zu vereinbaren gewesen sein, ein von dem zuständigen Abteilungsrichter des Familiengerichts geführtes Telefongespräch mit dem Sohn der Beschwerdeführerin als persönliche Anhörung im Sinne von § 159 FamFG ausreichen zu lassen. Die Vorschrift verlangt (sowohl in der bis zum 30. Juni 2021 geltenden als auch in der seit dem 1. Juli 2021 geltenden Fassung) grundsätzlich, dass ein 15-jähriges Kind durch das Gericht persönlich anzuhören ist. Jedenfalls in einer Fallgestaltung wie vorliegend, in der es um den Entzug der elterlichen Sorge bezüglich dieses Kindes geht und die Neigungen, Bindungen oder der Wille des Kindes für die Entscheidung von Bedeutung sind, muss sich das Gericht selbst einen persönlichen Eindruck von dem Kind verschaffen, also das Kind visuell und akustisch wahrnehmen. Dem könnte ein bloßes Telefonat als Form der Anhörung nicht genügt haben.
Selbst unter der Geltung des strengen verfassungsgerichtlichen Kontrollmaßstabs geht aber nicht mit jedem Verstoß gegen einfaches Recht stets eine Verletzung von Verfassungsrecht einher. Verfassungsrechtlich kommt es bei der Beurteilung eines Eingriffs in das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG insoweit darauf an, dass die Gerichte den Sachverhalt dergestalt ermittelt haben, dass eine möglichst zuverlässige Tatsachengrundlage für eine am Wohl des Kindes orientierte Entscheidung vorliegt. Deutliche Fehler bei der Feststellung des Sachverhalts liegen jedenfalls dann vor, wenn nicht hinreichend erkennbar wird, auf welche Erkenntnisgrundlage die Gerichte ihre tatsächlichen Annahmen stützen. Gleiches kommt in Betracht, wenn die Erkenntnisquellen des Gerichts zu einer entscheidungserheblichen Frage inhaltlich voneinander abweichen und das Gericht in einem solchen Fall nicht weitere Erkenntnisquellen nutzt oder nicht deutlich macht, aus welchem Grund es einer der voneinander abweichenden Erkenntnisquellen folgt.
Hat das Gericht aber eine solche zuverlässige Tatsachengrundlage für eine am Wohl des Kindes orientierte Entscheidung ermittelt, kann selbst der vollständige Verzicht auf eine einfachrechtlich vorgesehene persönliche Anhörung in Sorgerechtsangelegenheiten mit Verfassungsrecht in Einklang stehen, wenn er mit dem Zweck der betroffenen Anhörungsregelung vereinbar ist. Entsprechendes gilt selbst bei der durch Art. 6 Abs. 3 GG gebotenen strengen verfassungsrechtlichen Kontrolle im Fall einer den fachrechtlichen Anforderungen wohl nicht genügenden Durchführungsform der Kindesanhörung. Die persönliche Anhörung des Kindes dient neben der Gewährung des rechtlichen Gehörs vor allem auch der Sachaufklärung. Vorliegend war es verfassungsrechtlich nicht geboten, den Sohn der Beschwerdeführerin unmittelbar, gleichsam von Angesicht zu Angesicht, persönlich anzuhören, um eine hinreichend tragfähige Grundlage für die Beurteilung seiner Vorstellungen über das Zusammenleben mit seiner Mutter oder den Verbleib in der Wohngruppe zu erlangen. Die Fachgerichte verfügten über den eindeutigen Inhalt der telefonischen Anhörung hinaus über weitere Erkenntnisquellen zu dem mehrfach klar geäußerten Wunsch des Sohnes, nicht in den Haushalt der Beschwerdeführerin zurückkehren zu wollen. Entsprechend hatte er sich auch bereits gegenüber dem Sachverständigen, dem Jugendamt, der Verfahrensbeiständin und Betreuern der Wohngruppe geäußert. Es ist nicht erkennbar, dass die persönliche visuelle Wahrnehmung zu zusätzlichem Erkenntnisgewinn hätte führen können.
Auch die Verfahrensgestaltung des Oberlandesgerichts dürfte den fachrechtlichen Anforderungen nicht entsprochen haben. Es hätte von der persönlichen Anhörung des Kindes nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG in der bis zum 30. Juni 2021 geltenden Fassung wohl nur dann absehen dürfen, wenn das Amtsgericht sich verfahrensfehlerfrei – hier also nicht nur telefonisch – einen persönlichen Eindruck von dem Kind verschafft hätte. Daraus folgt aber vorliegend keine Verletzung des Elternrechts der Beschwerdeführerin, weil aus den genannten Gründen tragfähige Grundlagen zum Willen des Kindes über seinen zukünftigen Aufenthalt aus zahlreichen anderen Erkenntnisquellen vorhanden waren.
Soweit die Beschwerdeführerin in der fachrechtlich wohl rechtsfehlerhaften Durchführung der persönlichen Anhörung ihres Sohns eine Verletzung von dessen Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG sieht, kann sie dies mit ihrer Verfassungsbeschwerde nicht wirksam geltend machen. Sie ist zur Vertretung ihres Sohnes im verfassungsgerichtlichen Verfahren nicht berechtigt.
Auch als gesetzliche Vertreterin des Sohnes konnte die Beschwerdeführerin vorliegend einen solchen Verstoß nicht geltend machen. Denn die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde durch den gesetzlichen Vertreter eines minderjährigen Kindes kommt im Falle eines offensichtlichen Interessenkonflikts zwischen dem gesetzlichen Vertreter und dem Kind nicht in Betracht; es bedarf dazu der Bestellung eines Ergänzungspflegers nach § 1909 Abs. 1 Satz 1 BGB für das verfassungsgerichtliche Verfahren. Hier besteht ein solcher offensichtlicher Konflikt zwischen der Beschwerdeführerin und ihrem Sohn bereits wegen der völlig konträren Vorstellungen zum weiteren Lebensmittelpunkt des Kindes.
Es kann daher vorliegend offenbleiben, ob bei Anwendung des strengen verfassungsgerichtlichen Kontrollmaßstabs eine fachrechtlich fehlerhaft durchgeführte persönliche Anhörung des Kindes (§ 159 FamFG) zugleich einen Verfassungsverstoß darstellt. Denn einen Verstoß gegen Grundrechte oder Prozessgrundrechte können nur die jeweils betroffenen Personen geltend machen. Ein Beteiligter eines kindschaftsrechtlichen Verfahrens kann sich mit seiner Verfassungsbeschwerde nicht in zulässiger Weise auf die unterlassene persönliche Anhörung eines anderen Beteiligten berufen.