Das Landessozialgericht Baden-Württemberg hat mit Urteil vom 18.02.2021 zum Aktenzeichen L 6 SB 3623/20 entschieden, dass es mit dem Inklusionsgedanken nicht vereinbar ist, behinderte Menschen allein deshalb von öffentlichen Veranstaltungen gänzlich auszuschließen, weil diese sichtbar anders sind oder durch unwillkürliche Lautäußerungen auffallen; vielmehr hat die Allgemeinheit diese krankheitsbedingten Störungen zu akzeptieren und hinzunehmen, um einer Diskriminierung entgegenzuwirken.
Aus der Pressemitteilung des LSG BW vom 02.03.2021 ergibt sich:
Die heute 48jährige Klägerin K ist verheiratet und hat 2 Töchter. Im April 2016 erlitt sie einen Schlaganfall (Hirninfarkt). Bei ihr ist ein Grad der Behinderung von 100 sowie u.a. das Merkzeichen H (Hilflos) festgestellt und der Pflegegrad 3 anerkannt. Ihren Antrag, auch das Merkzeichen RF (Rundfunkgebührenermäßigung) festzustellen, weil sie öffentliche Veranstaltungen wie Theater- und Kinobesuche aufgrund lauter Schreie nicht mehr besuchen könne, lehnte das beklagte Land Baden-Württemberg ab. Widerspruch und Klage blieben erfolglos.
Der 6. Senat des LSG Stuttgart hat die hiergegen gerichtete Berufung der K zurückgewiesen.
Ihr sei die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht ständig unmöglich. Öffentliche Veranstaltungen seien Zusammenkünfte politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender und wirtschaftlicher Art, die länger als 30 Minuten dauerten. Dazu gehörten nicht nur Theater-, Oper-, Konzert- und Kinovorstellungen, sondern auch Ausstellungen, Messen, Museen, Märkte, Gottesdienste, Volksfeste, Sportveranstaltungen, Tier- und Pflanzengärten sowie letztlich auch öffentliche Gerichtsverhandlungen. Die Unmöglichkeit der Teilnahme an solchen Veranstaltungen sei nur dann gegeben, wenn der Schwerbehinderte wegen seines Leidens ständig, damit allgemein und umfassend, vom Besuch ausgeschlossen ist. Maßgeblich sei dabei allein die Möglichkeit der körperlichen Teilnahme, gegebenenfalls mit technischen Hilfsmitteln, zum Beispiel einem Rollstuhl, und/oder mit Hilfe einer Begleitperson. Ausgehend hiervon sei K mit ihrem Rollstuhl und einer Begleitperson hinreichend mobil, um an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen zu können. Soweit K durch ihre Halbseitenlähmung womöglich Blicke auf sich ziehe und diese selbst von störendem Verhalten berichte, komme es hierauf nicht an. Denn der auf die gesellschaftliche Teilhabe gerichtete Zweck des Merkzeichens „RF“ würde in sein Gegenteil verkehrt, wenn es mit dem Ziel zuerkannt werden könnte, besonderen Empfindlichkeiten der Öffentlichkeit Rechnung zu tragen und damit Behinderte quasi wegzuschließen, also gerade ihre Teilhabe zu verhindern. Deshalb stehe das Merkzeichen auch besonders empfindsamen Behinderten nicht allein deshalb zu, weil sie die Öffentlichkeit um ihrer Mitmenschen willen meiden. Indem es gerade nicht darauf ankommen dürfe, inwieweit sich Teilnehmer an öffentlichen Veranstaltungen durch Behinderte gestört fühlen, werde einer Ausgrenzung von schwerbehinderten Menschen und damit auch einer Diskriminierung entgegengewirkt. Da der Schwerbehinderte wegen seiner Leiden allgemein und umfassend von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sein müsse, obliege es ihm, die Art der öffentlichen Veranstaltungen so auszuwählen, dass er körperlich und geistig in der Lage sei, diesen Veranstaltungen weitestgehend folgen zu können. Dementsprechend reiche es nicht aus, dass sich K gehindert sehe, Theaterveranstaltungen zu besuchen, weil sie den Abläufen nicht folgen könne, und Kinoveranstaltungen, weil sie durch aggressives Verhalten und laute Rufe auffalle, da sie sich mit den Schauspielern identifiziere.
Das Urteil ist nicht rechtskräftig: K kann die Nichtzulassung der Revision noch vor dem Bundesozialgericht anfechten.