Der Europäische Gerichtshof hat im Verfahren C-337/19 P über belgische Steuerbefreiungen für multinationale Unternehmen entschieden, dass die Kommission zutreffend das Vorliegen einer Beihilferegelung festgestellt hat. Der EuGH hat daher das Urteil des EuG vom 14.02.2019 aufgehoben und die Sache zur Entscheidung über andere Gesichtspunkte der Rechtssache an das EuG zurückverwiesen.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 158/2021 vom 16.09.2021 ergibt sich:
Seit 2005 kommt in Belgien ein System der Befreiung von Gewinnüberschüssen belgischer Unternehmen, die zu multinationalen Konzernen gehören, zur Anwendung. Diese Unternehmen konnten einen Vorbescheid (ruling) der belgischen Steuerbehörden erlangen, wenn sie das Vorliegen einer neuen Situation geltend machen konnten, wie etwa eine Neuorganisation, die zu einer Neuansiedlung des Hauptunternehmens in Belgien führt, die Schaffung von Arbeitsplätzen oder Investitionen. In diesem Rahmen waren von der sogenannten Gesellschaftssteuer Gewinne befreit, die als „Mehrgewinne“ angesehen wurden, da sie die Gewinne überstiegen, die von vergleichbaren eigenständigen Unternehmen unter ähnlichen Umständen erzielt worden wären.
Im Jahr 2016 stellte die Kommission fest, dass dieses System der Befreiung von Gewinnüberschüssen eine rechtswidrige Beihilferegelung darstelle, die mit dem Binnenmarkt unvereinbar sei1. Sie ordnete die Rückforderung der auf diese Weise gewährten Beihilfen bei 55 Empfängern an, zu denen die Gesellschaft Magnetrol International zählte. Belgien und Magnetrol International erhoben Klage beim Gericht der Europäischen Union auf Nichtigerklärung des Beschlusses der Kommission.
Am 14. Februar 2019 erklärte das Gericht den Beschluss der Kommission für nichtig. Es stellte u.a. fest, dass die Kommission zu Unrecht zu dem Schluss gelangt sei, dass die Steuerregelung für Gewinnüberschüsse keine näheren Durchführungsmaßnahmen erfordere und daher eine „Beihilferegelung“ im Sinne der Verordnung 2015/15892 darstelle. Das Gericht wies außerdem die Argumentation der Kommission mit der geltend gemachten Existenz eines „systematischen Konzepts“ der belgischen Behörden zurück. Am 24. April 2019 legte die Kommission ein Rechtsmittel beim Gerichtshof ein. Ihrer Ansicht nach sind dem Gericht bei der Auslegung der Definition einer „Beihilferegelung“ Fehler unterlaufen.
Der EuGH hat im Urteil vom 16.09.2021 darauf hingewiesen, dass die Einstufung einer staatlichen Maßnahme als Beihilferegelung voraussetzt, dass drei kumulative Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens können Unternehmen auf der Grundlage einer Regelung Einzelbeihilfen gewährt werden. Zweitens ist für die Gewährung dieser Beihilfen keine nähere Durchführungsmaßnahme erforderlich. Drittens müssen die Unternehmen, denen Einzelbeihilfen gewährt werden können, „in einer allgemeinen und abstrakten Weise“ definiert werden.
Im Hinblick auf die erste Voraussetzung präzisiert der Gerichtshof zunächst den Begriff „Regelung“. Er bestätigt, dass dieser Begriff auch auf eine ständige Verwaltungspraxis der Behörden eines Mitgliedstaats verweisen kann, wenn diese Praxis ein „systematisches Konzept“ erkennen lässt.
Das Gericht hat trotz seiner Feststellung, dass sich die Rechtsgrundlage der in Rede stehenden Regelung nicht nur aus einer Vorschrift des Einkommensteuergesetzbuchs 1992 (CIR 92)3, sondern aus der Anwendung dieser Vorschrift durch die belgischen Steuerbehörden ergebe, hieraus nicht alle Konsequenzen gezogen. Insbesondere hat es den Umstand nicht berücksichtigt, dass die Kommission diese Anwendung nicht nur aus bestimmten Rechtsakten bzw. Maßnahmen4, sondern auch aus einem systematischen Konzept dieser Behörden abgeleitet hat.
Dagegen hat sich das Gericht auf die falsche Prämisse gestützt, dass der Umstand, dass sich einige der wesentlichen Elemente der in Rede stehenden Regelung nicht aus diesen Rechtsakten, sondern aus den Rulings selbst ergäben, impliziere, dass diese Rechtsakte zwangsläufig Gegenstand näherer Durchführungsmaßnahmen sein müssten. Folglich hat das Gericht dadurch, dass es seine Prüfung allein auf die vorgenannten Rechtsakte beschränkt hat, den Begriff „Regelung“ fehlerhaft angewandt.
Hinsichtlich der zweiten Voraussetzung für die Bestimmung einer „Beihilferegelung“, nämlich dem Fehlen von „näheren Durchführungsmaßnahmen“, weist der Gerichtshof sodann darauf hin, dass diese Frage untrennbar mit der Frage der Bestimmung der „Regelung“ verbunden ist, auf die sich die Beihilferegelung gründet.
Im Rahmen dieser Prüfung hat das Gericht jedoch nicht berücksichtigt, dass eines der wesentlichen Merkmale der in Rede stehenden Regelung darin bestand, dass die belgischen Steuerbehörden die Steuerbefreiung für Gewinnüberschüsse systematisch bewilligt hatten, wenn die Voraussetzungen erfüllt waren. Entgegen den Feststellungen des Gerichts konnte die Identifizierung einer solchen systematischen Praxis einen ausschlaggebenden Gesichtspunkt darstellen, anhand dessen gegebenenfalls belegt werden kann, dass die Steuerbehörden in Wirklichkeit über kein Ermessen verfügten.
Zur dritten Voraussetzung für die Bestimmung einer „Beihilferegelung“, nämlich der, dass die Begünstigten der Steuerbefreiung für Gewinnüberschüsse „in einer allgemeinen und abstrakten Weise“ definiert werden, führt der Gerichtshof aus, dass diese Frage ebenfalls untrennbar mit den ersten beiden dieser Voraussetzungen verbunden ist, die das Vorliegen einer „Regelung“ und das Nichtvorliegen „näherer Durchführungsmaßnahmen“ betreffen. Deshalb haben die Rechtsfehler des Gerichts, die die ersten beiden Voraussetzungen betreffen, seine Beurteilung in Bezug auf die Definition der Begünstigten der Steuerbefreiung für Gewinnüberschüsse beeinträchtigt.
Daher kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass das Gericht mehrere Rechtsfehler begangen hat. Im Hinblick auf den Nachweis, dass ein „systematisches Konzept“ vorliegt, ist der Gerichtshof im Übrigen der Ansicht, dass die Stichprobe der von der Kommission geprüften Bescheide (22 in ausgewogener Weise ausgewählte Rulings von insgesamt 66) ihrer Natur nach für ein „systematisches Konzept“ der belgischen Steuerbehörden repräsentativ sein kann.
Mithin hebt der Gerichtshof das Urteil des Gerichts auf. Dagegen stellt er fest, dass der Rechtsstreit nicht zur Entscheidung reif ist, was die Klagegründe betrifft, mit denen im Wesentlichen geltend gemacht wird, dass die Steuerregelung für Gewinnüberschüsse zu Unrecht als staatliche Beihilfe eingestuft worden sei, insbesondere unter Berücksichtigung des Fehlens eines Vorteils und des Fehlens von Selektivität, und die Klagegründe, mit denen gerügt wird, dass insbesondere gegen die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und des Vertrauensschutzes verstoßen worden sei, da die Rückforderung der angeblichen Beihilfen, einschließlich bei den Unternehmensgruppen, denen die Empfänger dieser Beihilfen angehörten, fehlerhaft angeordnet worden sei. Deshalb verweist der Gerichtshof die Sache zur Entscheidung über diese Gesichtspunkte der Rechtssache an das Gericht zurück.
1 Beschluss (EU) 2016/1699 vom 11. Januar 2016 über die Beihilferegelung Belgiens SA.37667 (2015/C) (ex 2015/NN) (ABl. 2016, L 260, S. 61) betreffend die Steuerbefreiung für Gewinnüberschüsse.
2 Art. 1 Buchst. d der Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 [AEUV] (ABl. 2015, L 248, S. 9).
3 Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92.
4 Es handelt sich um Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92, die Begründung des Gesetzes vom 21. Juni 2004, das Rundschreiben vom 4. Juli 2006 und die Antworten des Finanzministers auf parlamentarische Anfragen zur Anwendung von Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92.