Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 18. Mai 2022 zum Aktenzeichen 2 BvR 1667/20 entschieden, dass die Ablehnung eines Antrags eines Polizeioberkommissars betreffend die Genehmigung einer Tätowierung mit dem Schriftzug „Aloha“ verfassungswidrig ist.
Der Beschwerdeführer ist Polizeioberkommissar im Dienst des Landes Bayern. Mit Schreiben vom 22. Oktober 2013 beantragte er die Genehmigung einer Tätowierung mit einem verzierten Schriftzug – „aloha“ – (15 cm x 6 cm) auf dem Unterarm im sogenannten sichtbaren Bereich.
Mit Bescheid vom 28. Juli 2015 teilte der Präsident des Polizeipräsidiums Mittelfranken mit, dass dem Antrag nicht entsprochen werden könne. Zur Begründung verwies er auf die Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 7. Februar 2000 zum Erscheinungsbild der Bayerischen Polizei (Az. IC 5-0335.1-0 „Erscheinungsbild der Bayerischen Polizei“), wonach im Dienst – ausgenommen Dienstsport – Tätowierungen nicht sichtbar sein dürften.
Mit seiner dagegen erhobenen Klage begehrte der Beschwerdeführer die Aufhebung des Bescheids vom 28. Juli 2015 sowie die Feststellung, dass er berechtigt sei, sich am Unterarm tätowieren zu lassen. Das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach wies die Klage mit Urteil vom 25. August 2016 ab. Rechtsgrundlage für die Ablehnung sei Art. 75 Bayerisches Beamtengesetz (BayBG) in Verbindung mit der rechtlich als Verwaltungsvorschrift zu qualifizierenden Bekanntmachung vom 7. Februar 2000. Diese Vorschriften stellten keinen unzulässigen Eingriff in das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG dar. Nach der gesetzlichen Vorschrift des Art. 75 BayBG müsse die Verpflichtung zum Tragen einer Dienstkleidung durch dienstliche Erfordernisse gerechtfertigt sein. Die Konkretisierung und Ausgestaltung dieser Verpflichtung im Einzelnen erfolge vorliegend in rechtlich nicht zu beanstandender Weise durch die Bekanntmachung vom 7. Februar 2000. Die Verpflichtung von Polizeivollzugsbeamten, im Dienst die vorgeschriebene Uniform zu tragen, sei vor allem durch das Erfordernis gerechtfertigt, die Legitimation der Beamten für polizeiliche Maßnahmen äußerlich kundzutun. Die Uniform sei einerseits sichtbares Zeichen für die Ausstattung ihrer Träger mit hoheitlichen Befugnissen. Zum anderen solle die Uniform die Neutralität ihrer Träger zum Ausdruck bringen und sichtbares Zeichen dafür sein, dass die Individualität der Polizeivollzugsbeamten im Dienst hinter den Anforderungen des Amtes zurücktrete. Dieser durch die Uniform vermittelte „Anschein der Neutralität“ könne durch ein Erscheinungsbild uniformierter Polizeibeamter beeinträchtigt werden, das die Individualität übermäßig hervorhebe und daher aus dem Rahmen des Üblichen falle.
Mit Urteil vom 14. November 2018 wies der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Berufung des Beschwerdeführers zurück. Die Feststellungsklage sei unbegründet. Der Beschwerdeführer sei nicht berechtigt, sich am Unterarm im sogenannten sichtbaren Bereich tätowieren zu lassen. Mit Art. 75 Abs. 2 BayBG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung personalaktenrechtlicher und weiterer dienstrechtlicher Vorschriften vom 18. Mai 2018 in Verbindung mit der Bekanntmachung vom 7. Februar 2000 liege eine hinreichend bestimmte Rechtsgrundlage vor, die jedenfalls für die Reglementierung von Tätowierungen von Polizeivollzugsbeamten (die bereits in einem Beamtenverhältnis stünden) Maßstäbe nach Inhalt, Zweck und Ausmaß enthalte. Keinen Bedenken unterliege der Umstand, dass der bayerische Gesetzgeber die obersten Dienstbehörden ermächtige, die nähere Ausformung der Vorgaben für die äußere Erscheinung des Beamten im Dienst zu bestimmen. Da eine erkennbare parlamentarische Leitentscheidung vorliege, dürfe eine Delegation an die oberste Dienstbehörde erfolgen, die – aus Gründen der Handhabungspraktikabilität – die näheren Einzelheiten durch eine Verwaltungsvorschrift oder Weisung ausforme. Die im vorliegenden Einzelfall bestehende Besonderheit, dass das Bundesverwaltungsgericht seine Rechtsprechung geändert habe und nunmehr im Hinblick auf die Reglementierung des zulässigen Ausmaßes von Tätowierungen bei Beamten eine hinreichend bestimmte gesetzliche Regelung verlange, führe nicht zur Unwirksamkeit der Bekanntmachung vom 7. Februar 2000. Es sei nicht ersichtlich, dass der für Rechtsverordnungen geltende Grundsatz, dass das zum Verordnungserlass ermächtigende Gesetz grundsätzlich im Zeitpunkt des Verordnungserlasses in Geltung sein müsse, auf Verwaltungsvorschriften zu übertragen sei.
Mit Urteil vom 14. Mai 2020 wies das Bundesverwaltungsgericht die von ihm zugelassene Revision des Beschwerdeführers gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zurück. Über die Frage der Zulässigkeit von nicht sofort ablegbaren und äußerlich sichtbaren Erscheinungsmerkmalen habe der Gesetzgeber nach Maßgabe der Anforderungen des Amtes selbst zu entscheiden. Dementsprechend reiche eine – nach dem Wortlaut von Art. 75 Abs. 2 Satz 1 BayBG durchaus naheliegende – bloße Ermächtigung an die Exekutive, nähere Bestimmungen, etwa durch Verwaltungsvorschriften, zu treffen, nicht aus. Deshalb verletze eine solche Auslegung der Vorschrift revisibles Recht, weil sie die erforderliche parlamentarische Leitentscheidung des Gesetzgebers auf die Exekutive verlagere.
Das angefochtene Berufungsurteil stelle sich aber aus anderen Gründen als richtig dar. Die vom Wortlaut des Art. 75 Abs. 2 Satz 1 BayBG in der Rechtsfolge auf eine Delegation an die oberste Dienstbehörde angelegte Regelung beschränke sich auf den Erlass von Verwaltungsvorschriften für Dienstkleidung. Der im Jahr 2018 neu eingefügte Art. 75 Abs. 2 Satz 2 BayBG betreffe hingegen die nicht sofort ablegbaren Erscheinungsmerkmale, die beim Tragen der Dienstkleidung sichtbar seien. Für diese habe der Gesetzgeber – jedenfalls für Polizeivollzugsbeamte – im Gesetz selbst eine abschließende Entscheidung getroffen. Sie seien grundsätzlich untersagt.
Dies folge für den Senat aus der Gesetzesbegründung zu Art. 75 Abs. 2 Satz 2 BayBG vom 27. März 2018 (LTDrucks 17/21474). Sie spreche entscheidend dafür, dass der Gesetzgeber mit der Neufassung von Art. 75 Abs. 2 Satz 2 BayBG die vom Senat im Urteil vom 17. November 2017 (BVerwGE 160, 370) geforderte „parlamentarische Leitentscheidung“ für Polizeivollzugsbeamte selbst getroffen habe. Dies ergebe sich zum einen daraus, dass der Gesetzgeber die Neuregelung in Art. 75 Abs. 2 Satz 2 BayBG im Jahr 2018 ausdrücklich und unter Bezugnahme auf die kompetenzrechtlichen Überlegungen des vorgenannten Senatsurteils geschaffen habe. Zum anderen und vor allem heiße es zur Begründung in der Landtagsdrucksache (LTDrucks 17/21474, S. 1) wörtlich: „Mit der Dienstkleidung und insbesondere der von Polizeivollzugsbeamten zu tragenden Uniform soll, neben einer Kennzeichnung der Ausstattung mit hoheitlichen Befugnissen, die Neutralität ihrer Träger zum Ausdruck gebracht werden. Diese wäre insbesondere bei Tätowierungen oder auffallendem Körperschmuck (Piercings, Ohrtunnel o.ä.) im sichtbaren Bereich beeinträchtigt. Individuelle Interessen müssen gegenüber der Notwendigkeit eines einheitlichen/neutralen Erscheinungsbilds zurücktreten.“ Daraus folge, dass der Gesetzgeber – jedenfalls für Polizeivollzugsbeamte, die zum Tragen von Dienstkleidung verpflichtet seien – selbst die Entscheidung über ein generelles Verbot für Tätowierungen und andere nicht sofort ablegbare Erscheinungsmerkmale in dem beim Tragen der Uniform sichtbaren Körperbereich getroffen habe. Das Amt eines hoheitlich tätigen Polizeivollzugsbeamten erfordere nach dem für den Senat maßgeblichen Regelungswillen des bayerischen Gesetzgebers, dass der einzelne Polizeivollzugsbeamte beim Tragen von Dienstkleidung im sichtbaren Körperbereich auf äußerlich erkennbare dauernde Körpermodifikationen grundsätzlich zu verzichten habe.
Dieses Verständnis von Art. 75 Abs. 2 Satz 2 BayBG werde durch die neuen Verwaltungsvorschriften zum „Erscheinungsbild der Bayerischen Polizei“ in der Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Sport und Integration vom 7. April 2020 (Bayerisches Ministerialblatt vom 29. April 2020 Nr. 229) im Ergebnis bestätigt. Dort heiße es unter Ziffer 4 Satz 1, den Gesetzesinhalt erläuternd, dass im Dienst – ausgenommen beim Dienstsport und bei Maßnahmen des behördlichen Gesundheitsmanagements – Tätowierungen, Brandings, Mehndis und Ähnliches nicht sichtbar sein dürften. Nur ausnahmsweise dürfe davon in begründeten Einzelfällen zum Beispiel bei entsprechender dienstlicher Notwendigkeit abgewichen werden (ebenda Ziff. 7).
Art. 75 Abs. 2 Satz 2 BayBG genüge schließlich auch unter Berücksichtigung gegebenenfalls gewandelter gesellschaftlicher Verhältnisse im Hinblick auf Tätowierungen und andere äußere Körpermodifikationen den übrigen materiellen verfassungsrechtlichen Anforderungen, insbesondere an die Verhältnismäßigkeit der Regelung. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 GG stehe unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung. Daher könne es aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden, das den Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes entspreche und inhaltlich hinreichend bestimmt sei, wenn der Eingriff auf Gründe des Gemeinwohls gestützt sei und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genüge. Nach Maßgabe von Art. 75 Abs. 2 Satz 2 BayBG erachte der bayerische Gesetzgeber Tätowierungen an Kopf, Hals, Händen und Unterarmen eines zum Tragen von Dienstkleidung verpflichteten Polizeivollzugsbeamten als geeignet, die Neutralitätsfunktion der Uniform zu beeinträchtigen. Diese Entscheidung habe der Gesetzgeber getroffen, ohne dabei von unzureichenden tatsächlichen Erkenntnisgrundlagen ausgegangen zu sein. Weitergehende verfassungsrechtliche Anforderungen an die Begründung der parlamentarischen Leitentscheidung bestünden angesichts des weiten Gestaltungsspielraums, der dem Gesetzgeber bei Maßnahmen zur Gewährleistung des staatlichen Neutralitätsgebots zukomme, nicht.
Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Staat Maßnahmen ergreifen dürfe, die die Neutralität seiner Amtsträger – gleich ob diese Polizeivollzugsbeamte oder Justizbedienstete seien – aus der Sichtweise eines objektiven Dritten unterstreichen sollten (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 14. Januar 2020 – 2 BvR 1333/17 -, BVerfGE 153, 1-72). In der Entscheidung zum Kopftuchverbot habe das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass dem Staat die Aufgabe der Optimierung hinsichtlich eines Vertrauens der Bevölkerung in die Funktionsfähigkeit des Staates zukomme. Diese verfolge er derzeit unter anderem durch strenge Formalisierungsbestimmungen. Nichts Anderes gelte für die Entscheidung des Gesetzgebers nach Art. 75 Abs. 2 Satz 2 BayBG über die Untersagung bestimmter sichtbarer und nicht sofort ablegbarer Erscheinungsmerkmale bei zum Tragen von Dienstkleidung verpflichteten Polizeivollzugsbeamten.
Das Verbot der Tätowierung sei auch verhältnismäßig. Denn der Polizeivollzugsbeamte dürfe sich jenseits der beim Tragen der Dienstkleidung sichtbaren Körperbereiche – im Rahmen des gesetzlich Zulässigen (vgl. etwa § 86a Abs. 1 StGB) – unbeschränkt tätowieren lassen.
Die Verfassungsrichter entschieden, dass die Auslegung von § 75 Abs. 2 Satz 2 BayBG durch das Bundesverwaltungsgericht den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt.
Der Annahme der Verfassungsbeschwerde steht nicht entgegen, dass mit Wirkung zum 7. Juli 2021 § 34 Abs. 2 BeamtStG in der Fassung des Gesetzes zur Regelung des Erscheinungsbilds von Beamtinnen und Beamten sowie zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften vom 28. Juni 2021 (BGBl I S. 2250) in Kraft getreten ist, der bundesrechtliche Vorgaben für das Erscheinungsbild von Beamtinnen und Beamten bei der Ausübung des Dienstes oder bei einer Tätigkeit mit unmittelbarem Dienstbezug enthält. Denn daraus folgt nicht, dass der Beschwerdeführer auch im Falle der Zurückverweisung an das Bundesverwaltungsgericht im Ergebnis keinen Erfolg haben könnte, so dass es an einem besonders schweren Nachteil im Sinne von § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG fehlen würde.
Zwar ist für die Entscheidung über die von dem Beschwerdeführer beantragte Feststellung, dass er als Polizeibeamter gegenüber seinem Dienstherrn berechtigt ist, sich am Unterarm tätowieren zu lassen, auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen, weil der Beschwerdeführer die Feststellung eines gegenwärtigen Rechtsverhältnisses begehrt. Entsprechend ist auch im Revisionsverfahren das geänderte Recht zugrunde zu legen. Infolge der Zurückverweisung des Urteils durch das Bundesverfassungsgericht muss das Bundesverwaltungsgericht deshalb bei der nunmehr anstehenden neuerlichen Revisionsentscheidung auch den neuen § 34 Abs. 2 BeamtStG seiner Entscheidung zugrunde legen.
Gemäß § 34 Abs. 2 Satz 2 BeamtStG können insbesondere das Tragen von bestimmten Kleidungsstücken, Schmuck, Symbolen und Tätowierungen im sichtbaren Bereich sowie die Art der Haar- und Barttracht eingeschränkt oder untersagt werden, soweit die Funktionsfähigkeit der Verwaltung oder die Pflicht zum achtungs- und vertrauenswürdigen Verhalten dies erfordert. § 34 Abs. 2 Satz 5 BeamtStG überlässt die Regelung der Einzelheiten den Ländern. Ob danach insgesamt die Voraussetzungen für eine Untersagung der Tätowierung gegenüber dem Beschwerdeführer vorliegen, bedarf weiterer Klärung.
Das angegriffene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet die allgemeine Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne, allerdings nur in den von dieser Grundrechtsnorm genannten Schranken. Sie steht insbesondere unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung und kann durch diese eingeschränkt werden. Hierzu gehören die vom Normgeber gesetzten Rechtsnormen unter Einschluss ihrer Auslegung durch die Gerichte, soweit die Normen und ihre Interpretation mit dem Grundgesetz in Einklang stehen. Insofern setzt auch das Beamtenrecht in seiner Auslegung durch die Gerichte der Handlungsfreiheit Grenzen.
Die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den Einzelfall sind Sache der dafür zuständigen Gerichte. Nur wenn hierbei durch die Gerichte Verfassungsrecht verletzt wird, kann das Bundesverfassungsgericht auf eine Verfassungsbeschwerde hin eingreifen. Das ist nicht schon dann der Fall, wenn eine Entscheidung am einfachen Recht gemessen objektiv fehlerhaft ist. Setzt sich die Auslegung jedoch in krassen Widerspruch zu den zur Anwendung gebrachten Normen und werden damit Einschränkungen der allgemeinen Handlungsfreiheit begründet, die keinerlei Grundlage im geltenden Recht finden, so beanspruchen die Gerichte Befugnisse, die von der Verfassung eindeutig dem Gesetzgeber übertragen sind. Die Gerichte begeben sich damit aus der Rolle des Normanwenders in die einer Norm setzenden Instanz, entziehen sich also der Bindung an Recht und Gesetz im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG. Dies führt im Ergebnis zu einer nicht mehr durch die verfassungsmäßige Ordnung legitimierten Beschränkung der durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Handlungsfreiheit.
So liegt der Fall hier. Während der Bayerische Verwaltungsgerichtshof davon ausgeht, dass – „da eine erkennbare parlamentarische Leitentscheidung vorliegt“ – eine Delegation an die oberste Dienstbehörde erfolgen durfte, die aus Gründen der Praktikabilität die näheren Einzelheiten durch eine Verwaltungsvorschrift oder Weisung ausformt, sieht das Bundesverwaltungsgericht in Art. 75 Abs. 2 Satz 2 BayBG selbst ein Verbot für Polizeivollzugsbeamtinnen und –beamte, sich im sichtbaren Bereich tätowieren oder vergleichbar behandeln zu lassen. Diese Rechtsauffassung lässt sich mit keiner der anerkannten Auslegungsmethoden begründen.
Die Auslegung durch das Bundesverwaltungsgericht lässt sich dem Wortlaut des Art. 75 Abs. 2 Satz 2 BayBG nicht im Ansatz entnehmen, widerspricht ihm im Ergebnis sogar. Art. 75 Abs. 2 BayBG in der Fassung vom 18. Mai 2018 lautet:
Soweit es das Amt erfordert, kann die oberste Dienstbehörde nähere Bestimmungen über das Tragen von Dienstkleidung und das während des Dienstes zu wahrende äußere Erscheinungsbild der Beamten und Beamtinnen treffen. Dazu zählen auch Haar- und Barttracht sowie sonstige sichtbare und nicht sofort ablegbare Erscheinungsmerkmale.
Satz 2 der Vorschrift bezieht sich offensichtlich auf Satz 1 („Dazu zählen auch“). Satz 2 macht damit deutlich, dass die in Satz 1 der obersten Dienstbehörde eingeräumte Möglichkeit, „Bestimmungen“ zum äußeren Erscheinungsbild zu treffen, sich auch auf die dort genannten Erscheinungsmerkmale bezieht.
Unschwer lassen sich Tätowierungen im sichtbaren Bereich (bei Zugrundelegung der Sommeruniform auch am Unterarm) zwar unter Satz 2 subsumieren. Die Rechtsfolge, die das Bundesverwaltungsgericht aus Art. 75 Abs. 2 Satz 2 BayBG herausliest, geht aber sehr deutlich über die Wortlautgrenze hinaus. Dass unmittelbar in Art. 75 Abs. 2 Satz 2 BayBG ein Verbot für Polizeibeamtinnen und –beamte geregelt ist, sich im sogenannten sichtbaren Bereich tätowieren zu lassen, lässt sich dem Wortlaut der Norm, insbesondere mit Blick auf Satz 1, unter keinem denkbaren begrifflichen Ansatz entnehmen.
Anderes ergibt sich auch nicht aus der Gesetzesbegründung zu Art. 75 Abs. 2 Satz 2 BayBG. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts spricht für seine Auslegung zunächst, dass der Gesetzgeber die Neuregelung im Jahr 2018 ausdrücklich und unter Bezugnahme auf die kompetenzrechtlichen Überlegungen des Senatsurteils aus dem Jahr 2017 geschaffen habe. Dies ist zwar zutreffend, lässt aber keinen Schluss darauf zu, ob der bayerische Gesetzgeber selbst ein Verbot normieren, oder eine entsprechende Ermächtigungsnorm, die anschließender Umsetzung bedarf, schaffen wollte. Dem entspricht es, dass in der Gesetzesbegründung ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass sich das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 17. November 2017 (BVerwGE 160, 370) „nicht mit letzter Klarheit “ geäußert habe, ob es für die sichtbaren Erscheinungsmerkmale „eine unmittelbare Regelung durch eine Rechtsnorm (Gesetz oder Verordnung) verlangt“.
Ferner bezieht sich das Bundesverwaltungsgericht für seine Auffassung auf eine konkrete Passage aus der Gesetzesbegründung (LTDrucks 17/21474, S. 1): „Mit der Dienstkleidung und insbesondere der von Polizeivollzugsbeamten zu tragenden Uniform soll, neben einer Kennzeichnung der Ausstattung mit hoheitlichen Befugnissen, die Neutralität ihrer Träger zum Ausdruck gebracht werden. Diese wäre insbesondere bei Tätowierungen oder auffallendem Körperschmuck (Piercings, Ohrtunnel o.ä.) im sichtbaren Bereich beeinträchtigt. Individuelle Interessen müssen gegenüber der Notwendigkeit eines einheitlichen/neutralen Erscheinungsbilds zurücktreten.“ Daraus folgert das Bundesverwaltungsgericht, dass der Gesetzgeber selbst – jedenfalls für Polizeivollzugsbeamte, die zum Tragen von Dienstkleidung verpflichtet sind – die Entscheidung über ein generelles Verbot für Tätowierungen und andere nicht sofort ablegbare Erscheinungsmerkmale in dem beim Tragen der Uniform sichtbaren Körperbereich (in Art. 75 Abs. 2 Satz 2 BayBG normiert) getroffen hat. Dies widerspricht jedoch der insoweit eindeutigen weiteren Gesetzesbegründung. Dort wird ausdrücklich betont: „Soweit sich eine solche parlamentarische Leitentscheidung aus einer klaren Gesetzesbestimmung ergibt, sollte nach der hier vertretenen Auffassung dann eine nähere Ausformung der konkreten Erscheinungspflichten des Beamten durch Verwaltungsvorschrift (VwV) oder Weisung möglich sein. Zu diesem Zweck wird in Art. 75 Abs. 2 eindeutig klargestellt, dass die obersten Dienstbehörden für ihre Beamtinnen und Beamten nicht nur die Pflicht zum Tragen einer bestimmten Uniform oder Dienstkleidung einführen dürfen, sondern dass es ihnen mit gesetzgeberischer Billigung auch möglich ist, permanente oder dauerhaftere Erscheinungsmerkmale, die der Beamte auch bei Dienstende nicht wie Kleidung oder Schmuck sofort ablegen kann, als unzulässig einzustufen, wenn das das Amt erfordert. Dazu zählen insbesondere die Haar- und Barttracht, Tätowierungen, Brandings, Fleshtunnels und sonstige Körpermodifikationen.“
Bestätigt sieht das Bundesverwaltungsgericht sein Verständnis von Art. 75 Abs. 2 Satz 2 BayBG durch die Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministerium des Inneren, für Sport und Integration vom 7. April 2020. Dort heißt es in Ziff. 4 Satz 1: „Im Dienst – ausgenommen Dienstsport und Maßnahmen des behördlichen Gesundheitsmanagements – dürfen Tätowierungen, Brandings, Mehndis (durch Henna verursachte Hautverfärbungen) und Ähnliches nicht sichtbar sein“ . Es erschließt sich nicht, inwieweit diese Bekanntmachung bestätigt, dass schon in Art. 75 Abs. 2 Satz 2 BayBG selbst ein Tätowierungsverbot für Polizeivollzugsbeamtinnen und –beamte geregelt sein soll. Denn nach dem Einleitungssatz der Bekanntmachung „erlässt“ das Staatsministerium „auf der Grundlage von Art. 75 BayBG und § 34 BeamtStG“ selbst die Bestimmungen zum Erscheinungsbild von bayerischen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten. Offensichtlich sieht das Ministerium Art. 75 Abs. 2 BayBG als Ermächtigungsnorm, die auch die Ermächtigung zur Regelung eines Tätowierungsverbots enthält. Die eindeutige Regelung in Ziff. 4 der Bekanntmachung ist in Art. 75 Abs. 2 Satz 2 BayBG gerade nicht enthalten. Eine Polizeivollzugsbeamtin oder ein Polizeivollzugsbeamter kann nicht einmal in Kenntnis der Gesetzesbegründung aus Art. 75 Abs. 2 Satz 2 BayBG herauslesen, ob eine Tätowierung im sichtbaren Bereich zulässig oder verboten ist. Dies ergibt sich erst aus der entsprechenden Bekanntmachung.
Letztlich will das Bundesverwaltungsgericht mit Blick auf den Wesentlichkeitsgrundsatz eine verfassungskonforme Auslegung des Art. 75 Abs. 2 Satz 2 BayBG vornehmen. Es legt seiner Entscheidung zugrunde, dass die Annahme einer bloßen Ermächtigungsnorm das aus dem Wesentlichkeitsgrundsatz folgende verfassungsrechtliche Gebot, dass der Gesetzgeber die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen auch im Beamtenverhältnis durch das Gesetz selbst zu regeln hat und bereits aus dieser parlamentarischen Leitentscheidung erkennbar und vorhersehbar sein muss, was dem Beamten gegenüber zulässig sein soll, verfehlt. Das Gebot verfassungskonformer Gesetzesauslegung verlangt, von mehreren möglichen Normdeutungen, die teils zu einem verfassungswidrigen, teils zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führen, diejenige vorzuziehen, die mit dem Grundgesetz in Einklang steht. Lassen der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte, der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen und deren Sinn und Zweck mehrere Deutungen zu, von denen eine zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führt, so ist diese geboten. Auch im Wege der verfassungskonformen Interpretation darf aber der normative Gehalt einer Regelung nicht neu bestimmt werden. Die Grenzen verfassungskonformer Auslegung ergeben sich damit grundsätzlich aus dem ordnungsgemäßen Gebrauch der anerkannten Auslegungsmethoden. Der Respekt vor der gesetzgebenden Gewalt (Art. 20 Abs. 2 GG) gebietet es dabei, in den Grenzen der Verfassung das Maximum dessen aufrechtzuerhalten, was der Gesetzgeber gewollt hat. Er fordert mithin eine verfassungskonforme Auslegung der Norm, die durch den Wortlaut des Gesetzes gedeckt ist und die prinzipielle Zielsetzung des Gesetzgebers wahrt. Die Deutung darf nicht dazu führen, dass das gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt oder verfälscht wird.
Indem das Bundesverwaltungsgericht Art. 75 Abs. 2 Satz 2 BayBG einen Sinn zugrunde legt, den der Gesetzgeber offensichtlich nicht hat verwirklichen wollen und der auch in keiner Weise Eingang in den Gesetzeswortlaut gefunden hat, überschreitet es die Grenzen der verfassungskonformen Auslegung. Es mag sein, dass eine bloße Ermächtigung, die es der obersten Dienstbehörde ermöglicht, dauerhafte oder permanente Erscheinungsbilder als unzulässig einzustufen, nicht den im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. November 2017 festgelegten Anforderungen entspricht. Deshalb jedoch entgegen dem Wortlaut und der Gesetzesbegründung davon auszugehen, dass das Tätowierungsverbot direkt in Art. 75 Abs. 2 Satz 2 BayBG geregelt ist, widerspricht den anerkannten Auslegungsmethoden.