Das Landessozialgericht Baden-Württemberg hat am 14.12.2021 zum Aktenzeichen L 9 U 180/20 entschieden, dass bei einem Sturz vom Dach einer Jugendherberge während eines mehrtägigen, durch den Ausbildungsbetrieb durchgeführten Einführungsseminars Unfallversicherungsschutz besteht. Es ist Teil eines gruppendynamischen Prozesses unter Jugendlichen und Ausdruck alterstypischer Unreife, wenn ein 17jähriger Auszubildender mit dem Willen, einen gemeinsamen Abend mit weiteren Auszubildenden fortzusetzen und in dem Bewusstsein, dass der Flur durch eine Aufsichtsperson überwacht wird, über das Dach der Jugendherberge zum Nachbarzimmer klettert.
Aus der Pressemitteilung des LSG BW vom 11.02.2022 ergibt sich:
Der lernbehinderte Kläger K begann im September 2014 eine durch die Bundesagentur für Arbeit geförderte Ausbildung zum Fachpraktiker Hauswirtschaft. Im November 2014 fand in der Jugendherberge eine dreitägige Einführungsveranstaltung für die Auszubildenden aus den Bereichen Küche, Hauswirtschaft, Farbe und Holz statt. Hieran nahmen insgesamt 11 Auszubildende, darunter der 17-jährige K als einziger junger Mann seiner Ausbildungsgruppe, und deren Ausbilder teil. Am ersten Abend fanden in der Gruppe Kooperationsübungen statt. Anschließend hielten sich die Teilnehmer in ihren Zimmern auf; K besuchte – zeitweise gemeinsam mit seinem Zimmergenossen – erlaubtermaßen die drei Mädchen im Nachbarzimmer. Es wurde „Blödsinn gemacht, Musik gehört und gequatscht“, auch heimlich Alkohol konsumiert. K trank zwei Wodka Orange, was zu einer Blutalkoholkonzentration von 0,5 Promille führte. Der Betreuer, der den Abend zunächst gegen 22 Uhr beenden wollte, wurde von den Auszubildenden überredet, noch eine Stunde zuzugeben. Gegen 23 Uhr forderte er die Teilnehmer auf, ihre Zimmer aufzusuchen. Der Kläger folgte dieser Aufforderung, kündigte den Mädchen, mit denen er den Abend verbracht hatte, jedoch vorher an, über das Dach ins benachbarte Mädchenzimmer zurückzukommen. Diese hielten seine Ankündigung für einen Spaß. Mindestens eine Teilnehmerin sagte zum K, dass er „das sowieso nicht machen“ werde. Der Betreuer kontrollierte die Einhaltung der Bettruhe etwa gegen 23.30 Uhr und hielt sich auch weiterhin zeitweise im Flur auf, was die Teilnehmer wussten. Nach dem Kontrollbesuch stand K wieder auf, öffnete das Fenster und kletterte auf das Dach, um auf diesem Weg zum Mädchenzimmer zu gelangen und den gemeinsamen Abend fortzusetzen. Dabei verlor er den Halt, stürzte aus etwa 8 m Höhe auf den Boden und erlitt mehrere Frakturen, u.a. im Bereich des linken Oberarms, des Beckens und der Wirbelsäule. Nach diversen Operationen ist beim Kläger eine massive Bewegungseinschränkung des gesamten linken Armes verblieben.
Die beklagte Berufsgenossenschaft (BG) gewährte dem Kläger zunächst einen Vorschuss in Höhe von 2.600 € auf die voraussichtlich zu gewährenden Geldleistungen, forderte nach weiterer Überprüfung jedoch den vorgeschossenen Betrag zurück und lehnte die Anerkennung des Sturzes vom November 2014 als Arbeitsunfall ab. Denn der Entschluss, durch das Fenster in das benachbarte Mädchenzimmer zu klettern, stehe grundsätzlich in keinem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit als Teilnehmer der Ausbildung und sei somit dem privaten unversicherten Bereich zuzuordnen. Hinzu komme, dass der Kläger alkoholisiert gewesen sei; es sei bekannt, dass auch bei Erwachsenen Hemmschwellen und Gefahrenbewusstsein bei zunehmendem Alkoholspiegel abnähmen.
Das Sozialgericht hat die von K angefochtene Entscheidung der BG aufgehoben und den Sturz vom November 2014 als Arbeitsunfall anerkannt. Die hiergegen von der BG eingelegte Berufung hat der 9. Senat des Landessozialgerichts zurückgewiesen:
Als Teilnehmer an einer von der Bundesagentur für Arbeit geförderten Ausbildungsmaßnahme sei K bei allen Verrichtungen während des Einführungsseminars unfallversichert gewesen, die in innerem Zusammenhang mit der Ausbildung standen. Das Klettern über das Dach der dreistöckigen Jugendherberge in Richtung des benachbarten Mädchenzimmers mit dem Willen, den gemeinsamen Abend fortzusetzen und mit dem Wissen, dass der Flur überwacht wurde, stehe noch in einem solchen inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit. Der Versicherungsschutz sei nicht dadurch aufgehoben, dass sich K mit seiner Kletterei – objektiv betrachtet – in hohem Maße vernunftwidrig und gefahrbringend verhalten habe. Denn sein Sturz sei Folge seiner altersbedingten Unreife und eines für Jugendliche seines Alters typischen gruppendynamischen Prozesses gewesen. Durch das gemeinsame Verbringen des Abends nach Abschluss des Schulungsprogramms bei Musik, Gesprächen, „Quatsch machen“ und maßvollem Alkoholgenuss sei ein gruppendynamischer Prozess in Gang gesetzt worden. Es erscheine nachvollziehbar und gruppentypisch, dass der jugendliche K den Wunsch verspürt habe, den Abend „zu verlängern“. Seine Idee, den Flur zu vermeiden und nach einem anderen Weg zu suchen, sei insoweit ebenfalls einem gruppendynamischen Prozess entsprungen. Nach der entsprechenden Ankündigung, über das Dach zurückzukommen, die die Mädchen mit Unglauben („das machst du sowieso nicht“) quittiert hätten, sei K, dem seitens seiner Betreuerin im Kreis seiner Kolleginnen das Streben nach „Coolness“ („Hahn im Korb“) attestiert wurde, in einen gewissen Zugzwang geraten. Mit Blick auf diesen gruppendynamischen Prozess habe sich K nach dem nächtlichen Kontrollbesuch jugend- bzw. gruppentypisch schlafend gestellt und seine Ankündigung wahrgemacht, aus dem Fenster zu steigen. Die Idee, die Konfrontation mit einer eventuell im Flur befindlichen Aufsichtsperson durch die Nutzung eines anderen „Weges“ zu vermeiden, erscheine durchaus naheliegend. Die dann von K gewählte Lösung, über das Dach zum Nachbarzimmer zu klettern, sei zwar unvernünftig und leichtsinnig, aber nicht komplett fernliegend. Die Selbstüberschätzung des K, das Mädchenzimmer unfallfrei über das Dach zu erreichen, sei jugendtypisch und unter Berücksichtigung des konkreten Sachverhalts auch nicht völlig vernunftwidrig. Der nach der Hausordnung der Jugendherberge verbotene, von K nicht bestrittene Konsum von Alkohol lasse den Versicherungsschutz ebenfalls nicht entfallen. So habe keiner der vernommenen Zeugen den Kläger als betrunken beschrieben; auch im erstversorgenden Krankenhaus sei er als ansprechbar, orientiert und lediglich leicht alkoholisiert wirkend eingeschätzt worden. Besondere Auswirkungen einer Alkoholisierung seien damit nicht dokumentiert.