Strafrechtliche Rehabilitierung wegen Unterbringung in Kinderheimen der DDR

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 09. Dezember 2021 zum Aktenzeichen 2 BvR 1789/16 entschieden, dass die Versagung der strafrechtlichen Rehabilitierung aus Zeiten der DDR verfassungswidrig ist.

Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Zurückweisung ihres Antrags auf strafrechtliche Rehabilitierung wegen ihrer Unterbringung in Kinderheimen der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (im Folgenden: DDR).

Aufgrund behördlicher Anordnung war die damals 16-jährige Beschwerdeführerin von März bis April 1983 auf Antrag der Eltern und der Schule zunächst in einem Durchgangsheim in Rostock-Bramow und sodann von April 1983 bis Februar 1985 in einem Jugendwerkhof des Spezialkinderheims „Ernst Schneller“ in Eilenburg untergebracht. Zwischenzeitlich wurde sie für die Dauer von knapp vier Monaten (Dezember 1983 bis April 1984) in den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau eingewiesen. Hinsichtlich ihres dortigen Aufenthalts ist die Beschwerdeführerin bereits durch Beschluss des Landgerichts Berlin rehabilitiert worden.

Im Januar 2015 beantragte die Beschwerdeführerin beim Landgericht Rostock (im Folgenden: Landgericht) ihre strafrechtliche Rehabilitierung nach dem Gesetz über die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet (Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz – StrRehaG) wegen oben genannter Heimunterbringungen mit Ausnahme ihrer Unterbringung in dem Jugendwerkhof Torgau. Mit Beschluss vom 11. August 2015 wies das Landgericht den Antrag als unbegründet zurück.

Die gegen den landgerichtlichen Beschluss erhobene Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht Rostock (im Folgenden: Oberlandesgericht) mit Beschluss vom 15. Januar 2016 als unbegründet.

Dagegen erhob die Beschwerdeführerin im Mai 2016 Anhörungsrüge, mit welcher sie die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beziehungsweise Erörterung (vgl. zu dieser Begrifflichkeit in § 11 Abs. 3 StrRehaG BTDrucks 12/1608, S. 14 unter 3 und S. 22 unter 3) erstmals unter Verweis auf Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) und die dazu ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) einforderte.

Mit Beschluss vom 15. Juli 2016 wies das Oberlandesgericht die Anhörungsrüge gestützt auf § 15 StrRehaG, § 311a der Strafprozessordnung (StPO) zurück.

Dazu führte der zur Entscheidung berufene Senat insbesondere aus, er sei nicht zur einer mündlichen Anhörung der Beschwerdeführerin verpflichtet gewesen. Eine mündliche Anhörung sei gemäß § 11 Abs. 3 StrRehaG im Rehabilitierungsverfahren die Ausnahme. Dies gelte für das Beschwerdeverfahren gemäß § 15 StrRehaG in Verbindung mit § 309 Abs. 1 StPO entsprechend. Der Gesetzgeber habe das Rehabilitierungsverfahren durchgängig als schriftliches Verfahren angelegt. Aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ergebe sich nichts Anderes. Diese Vorschrift stehe im Rang eines einfachen Gesetzes und werde deshalb von den Normen des StrRehaG als leges speciales verdrängt. Im Übrigen handle es sich jedenfalls bei einem strafrechtlichen Rehabilitierungsverfahren nach den Abschnitten 1 und 2 des StrRehaG weder um ein Verfahren, mit dem zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen durchgesetzt werden sollten, noch um eine strafrechtliche Anklage. Daher gehe auch der Verweis der Beschwerdeführerin auf die Entscheidungen des EGMR vom 18. Oktober 2010 – 41285/02 – (Szal v. Poland) und vom 5. Mai 2000 (gemeint ist wohl „vom 25. Mai 2000“) – 31382/96 – (Kurzac v. Poland) fehl. Dort sei es jeweils um Verfahren wegen einer Entschädigung in Geld gegangen, in denen als konventionswidrig lediglich beanstandet worden sei, dass nicht durch unabhängige und unparteiische Gerichte im Sinne der Konvention entschieden worden sei (Verweis auf EGMR, Szal v. Poland, Rn. 56 ff.). Im Übrigen habe der EGMR herausgestellt, dass es Sache der jeweiligen nationalen Verfahrensordnung sei, wie das Verfahren im Einzelnen und die Beweiserhebung durchgeführt werde (Verweis auf EGMR, a.a.O., Rn. 64). In der Entscheidung des EGMR vom 25. Mai 2000 – 31382/96 – (Kurzac v. Poland) sei es allein um die Fragen gegangen, ob es sich bei Rehabilitierungsverfahren, auch wenn es dabei noch nicht um Geldforderungen gehe, schon um „Streitigkeiten in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche“ handle, was bejaht wurde, und sodann um die angemessene Dauer solcher Verfahren. Zu der hier allein interessierenden Frage, wie solche Verfahren bezüglich der Beweiserhebung ausgestaltet sein müssten, insbesondere ob es dazu zwingend zu einer mündlichen Verhandlung oder persönlichen (mündlichen) Anhörung kommen müsse, habe sich der EGMR dort nicht verhalten.

Die Beschwerdeführerin ist durch die Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 15. Juli 2016 in ihrem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, da das Oberlandesgericht darin die Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit nicht mehr nachvollziehbarer Begründung ablehnt.

Der in Art. 103 Abs. 1 GG zum grundrechtsgleichen Recht erhobene Grundsatz des rechtlichen Gehörs ist eine Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken für das Gebiet des gerichtlichen Verfahrens. Der Einzelne soll nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (vgl. BVerfGE 9, 89 <95 f.>; 55, 1 <5 f.>; 84, 188 <190>).

Das Recht auf Gehör ist in den einzelnen Verfahrensordnungen nach Umfang und Form konkretisiert. Dabei muss es mit anderen, aus der inneren Sachgerechtigkeit der einzelnen Verfahrensart sich ergebenden Grundsätzen abgestimmt werden. Art. 103 Abs. 1 GG geht davon aus, dass die nähere Ausgestaltung des rechtlichen Gehörs den einzelnen Verfahrensordnungen überlassen bleiben muss (vgl. BVerfGE 9, 89 <95 f.>). Die Prinzipien der Mündlichkeit und der Öffentlichkeit der Verhandlung sind in der Folge keine Verfassungsrechtsgrundsätze, sondern Prozessrechtsmaximen, die bestimmte Verfahrensarten beherrschen (vgl. BVerfGE 15, 303 <307>).

Art. 103 Abs. 1 GG gibt dem an einem Rechtsstreit Beteiligten daher ein Recht darauf, dass er Gelegenheit erhält, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt und zur Rechtslage vor Erlass der Entscheidung zu äußern (vgl. BVerfGE 60, 175 <210> m.w.N.). Ein Mittel zur Verwirklichung des rechtlichen Gehörs ist die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Ein Recht auf Äußerung in einer mündlichen Verhandlung gewährt Art. 103 Abs. 1 GG jedoch nur, wenn diese tatsächlich stattfindet (vgl. BVerfGE 42, 364 <369 f.>). Ein Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung begründet Art. 103 Abs. 1 GG nach ständiger verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung lediglich für den Fall, dass eine mündliche Verhandlung im Fachrecht zwingend vorgesehen ist (vgl. BVerfGE 5, 9 <11>; 9, 89 <95 f.>; 15, 249 <256>; 18, 399 <405>; 42, 364 <369 f.>; 60, 175 <210 f.>; 112, 185 <206>; BVerfGK 19, 377 <382>). Soweit der Gesetzgeber keine verbindliche Entscheidung trifft, liegt die Form der Anhörung im Ermessen des Gerichts (vgl. BVerfGE 89, 381 <391>). Dann ist das Bundesverfassungsgericht darauf beschränkt, zu prüfen, ob die Gerichte ihr Ermessen willkürlich ausgeübt, das heißt sich von unsachlichen, nicht nachvollziehbaren Erwägungen haben leiten lassen oder die Bedeutung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs verkannt haben (vgl. BVerfGE 9, 89 <107 f.>; 69, 145 <148 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 7. Juni 1991 – 2 BvR 747/91 -, juris, Rn. 6).

Der angegriffene Beschluss vom 15. Juli 2016 wird den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht.

Das Oberlandesgericht hat zum einen darauf abgestellt, dass der Gesetzgeber das strafrechtliche Rehabilitierungsverfahren in § 11 Abs. 3 StrRehaG durchgängig als schriftliches Verfahren angelegt habe; eine mündliche Anhörung sei die Ausnahme. Art. 6 Abs. 1 EMRK stehe im Rang eines einfachen Gesetzes und werde daher von den Bestimmungen des StrRehaG als leges speciales verdrängt. Diese Annahme widerspricht der ständigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, wonach die Fachgerichte aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes stets dazu verpflichtet sind, die Gewährleistungen der EMRK in der Auslegung des Gerichtshofs bei ihrer Rechtsanwendung im Rahmen des methodisch Vertretbaren zu berücksichtigen und – soweit möglich – der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang einzuräumen (vgl. BVerfGE 74, 102 <128>; 111, 307 <317, 324, 329>; 128, 326 <367>; BVerfGK 3, 4 <8>; stRspr.). Dabei ist grundsätzlich nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen will (vgl. BVerfGE 74, 358 <370>; BVerfGK 10, 116 <123>). Der Grundsatz „lex specialis derogat legi generali“ gilt im Verhältnis von Bundesrecht und EMRK daher nur ausnahmsweise. § 11 Abs. 3 Satz 2 StrRehaG beziehungsweise – soweit man seine Anwendbarkeit auf Beschwerdeverfahren nach dem StrRehaG bejaht – § 309 Abs. 1 StPO können mit Blick auf das darin eingeräumte gerichtliche Ermessen (vgl. Pfister, in: Pfister/Mütze, Rehabilitierungsrecht, 1993, § 11 StrRehaG Rn. 25; Neuheuser, in: Münchener Kommentar zur StPO, 1. Aufl. 2016, § 309 Rn. 3 a.E.) im Rahmen des methodisch Vertretbaren konventionskonform ausgelegt werden (vgl. Wasmuth, NJ 2016, S. 140 <144 f.>; Mützel, NJ 2017, S. 14 <18 f.>; zu einer strukturell vergleichbaren Konstellation siehe BVerwGE 110, 203 <210 ff.>). Jedenfalls hätte sich das Oberlandesgericht mit dieser Möglichkeit auseinandersetzen müssen.

Zum anderen hat das Oberlandesgericht darauf abgestellt, Art. 6 Abs. 1 EMRK sei auf gerichtliche Rehabilitierungsverfahren nach dem 1. und 2. Abschnitt des StrRehaG – also soweit es um die gerichtliche Rehabilitierungsentscheidung gemäß §§ 1, 2 StrRehaG als solche geht – nicht anwendbar. Eine Begründung hierfür gibt das Oberlandesgericht nicht. Stattdessen führt es allein aus, dass die Rechtsprechung des EGMR die Anwendbarkeit nicht gebiete. Hierfür mag es noch überzeugen, wenn das Oberlandesgericht argumentiert, die Entscheidung des EGMR vom 18. Oktober 2010 (Szal v. Poland, Nr. 41285/02) stehe seiner Auffassung nicht entgegen, da es dort um Verfahren wegen Entschädigung in Geld gegangen sei (vgl. insoweit EGMR, a.a.O., §§ 35-38). Nicht mehr nachvollziehbar sind jedoch die Ausführungen zur Entscheidung des EGMR vom 25. Mai 2000 (Kurzac v. Poland, Nr. 31382/96). Zunächst scheinen sie widersprüchlich, weil das Oberlandesgericht sowohl behauptet, in der Sache Kurzac v. Poland handele es sich um ein „Verfahren wegen Entschädigung in Geld“, als auch meint, dass dort über ein Rehabilitierungsverfahren entschieden worden sei, das, „auch wenn es dabei noch nicht um Geldforderungen“ gehe, schon eine Streitigkeit in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK darstelle. Dieser Widerspruch kann jedoch dahinstehen, weil das Oberlandesgericht – letztlich unabhängig von der Einordnung des in der Sache Kurzac v. Poland streitgegenständlichen Verfahrens – meint, aus der Entscheidung lasse sich nichts für die Beurteilung des vorliegenden Rehabilitierungsverfahrens ableiten. Dort sei lediglich die angemessene Dauer des Verfahrens thematisiert und „nichts [dazu] judiziert worden“, ob in Rehabilitierungsverfahren zwingend eine mündliche Verhandlung oder persönliche (mündliche) Anhörung durchgeführt werden müsse. Das Oberlandesgericht geht offenbar davon aus, dass sich Bindungen aus den Entscheidungen des EGMR zum Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK nur in Bezug auf die jeweils konkret thematisierte Verfahrensgarantie ergeben. Auch diese Argumentation ist nicht mehr verständlich. Denn den Entscheidungen des EGMR kommt über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus eine Orientierungs- und Leitfunktion für die Auslegung der EMRK zu. Sie sind daher auch dann gebührend zu berücksichtigen, wenn sie nicht denselben Streitgegenstand betreffen (vgl. BVerfGE 111, 307 <324, 329>). Die Frage des Anwendungsbereichs des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK ist insoweit eine Frage, zu der die Rechtsprechung des EGMR eine eigenständige Rechtsprechungslinie aufweist unabhängig davon, welche der in Art. 6 Abs. 1 EMRK angesprochenen Rechtsschutzgarantien in Streit stehen. Die Annahme, für jede einzelne Verfahrensgarantie sei der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK autonom zu bestimmen, entbehrt insoweit jeder argumentativen Stütze.