Das Gericht der Europäischen Union hat am 25.01.2022 zum Aktenzeichen C-638/19 P rechtsfehlerhaft die Zuständigkeit der Kommission verneint, die von Rumänien in Vollstreckung eines Schiedsspruchs an schwedische Investoren gezahlte Entschädigung anhand des Beihilfenrechts zu prüfen.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 15/22 vom 25.01.2022 ergibt sich:
Zwar war der Schiedsspruch dem Vorbringen der Investoren gefolgt, wonach Rumänien eine steuerliche Anreizregelung vor seinem Beitritt zur Union rechtswidrig aufgehoben habe, doch ist die von der Kommission genannte Beihilfemaßnahme nach dem Beitritt gewährt worden.
Am 29. Mai 2002 schlossen das Königreich Schweden und Rumänien ein bilaterales Investitionsschutzabkommen zur Förderung und zum gegenseitigen Schutz von Investitionen (im Folgenden: BIT). Nach Art. 2 Abs. 3 des BIT gewährleistet jede Vertragspartei jederzeit eine faire und gerechte Behandlung der Investitionen von Investoren der anderen Vertragspartei. Außerdem sieht das BIT vor, dass Streitigkeiten zwischen den Investoren und den Unterzeichnerländern durch ein Schiedsgericht beigelegt werden.
Im Rahmen der Gespräche über den Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union hob die rumänische Regierung im Jahr 2005 eine nationale steuerliche Anreizregelung zugunsten bestimmter Investoren in benachteiligten Gebieten auf (im Folgenden: steuerliche Anreizregelung).
Da mehrere schwedische Investoren der Auffassung waren, dass Rumänien durch die Aufhebung der steuerlichen Anreizregelung gegen seine Verpflichtung aus dem BIT, eine faire und gerechte Behandlung ihrer Investitionen zu gewährleisten, verstoßen habe, beantragten sie die Einsetzung eines Schiedsgerichts, um Ersatz des entstandenen Schadens zu erlangen. Mit Schiedsspruch vom 11. Dezember 2013 verurteilte das Schiedsgericht Rumänien, den Investoren einen Betrag von rund 178 Mio. Euro als Entschädigung zu zahlen.
Trotz mehrerer Hinweise der Europäischen Kommission im Hinblick darauf, dass es erforderlich sei, in dieser Angelegenheit die für staatliche Beihilfen geltenden Vorschriften und Verfahren einzuhalten, zahlten die rumänischen Behörden die den schwedischen Investoren vom Schiedsgericht zugesprochene Entschädigung aus.
Mit Beschluss vom 30. März 2015 (im Folgenden: streitiger Beschluss)1 stufte die Kommission die Zahlung dieser Entschädigung als mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe ein, untersagte ihre Durchführung und ordnete die Rückforderung der bereits gezahlten Beträge an.
Das mit mehreren Klagen befasste Gericht erklärte diesen Beschluss für nichtig2 und begründete dies im Wesentlichen damit, dass die Kommission ihre Zuständigkeiten rückwirkend auf einen vor dem Beitritt Rumäniens zur Union am 1. Januar 2007 liegenden Sachverhalt angewandt habe. Das Gericht war nämlich von der Prämisse ausgegangen, dass die betreffende Beihilfe von Rumänien zum Zeitpunkt der Aufhebung der steuerlichen Anreizregelung, also im Jahr 2005, gewährt worden sei.
Auf das Rechtsmittel hebt der Gerichtshof (Große Kammer) das Urteil des Gerichts auf, bestätigt die Zuständigkeit der Kommission zum Erlass des streitigen Beschlusses und verweist die Sache zur Entscheidung über die vor dem Gericht geltend gemachten Klagegründe und Argumente zur materiellen Rechtmäßigkeit des Beschlusses an das Gericht zurück.
Würdigung durch den Gerichtshof
Da die Kommission die Zuständigkeit erworben hat, die von Rumänien ab seinem Beitritt zur Union getroffenen Beihilfemaßnahmen gemäß Art. 108 AEUV zu überprüfen, weist der Gerichtshof darauf hin, dass staatliche Beihilfen zu dem Zeitpunkt als gewährt im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV gelten, zu dem der Beihilfeempfänger nach dem geltenden nationalen Recht einen Rechtsanspruch auf die Beihilfe erwirbt. Das entscheidende Kriterium für die Bestimmung dieses Zeitpunkts ist der Erwerb eines sicheren Rechtsanspruchs der Begünstigten auf die betreffende Beihilfe und die daraus folgende entsprechende Verpflichtung des Staates zur Gewährung der Beihilfe. Zu diesem Zeitpunkt ist eine solche Maßnahme nämlich geeignet, eine Wettbewerbsverzerrung herbeizuführen, die im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen kann.
Im vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof fest, dass der Anspruch auf Entschädigung für den von den schwedischen Investoren behaupteten Schaden, auch wenn er auf der angeblich unter Verstoß gegen das BIT erfolgten Aufhebung der steuerlichen Anreizregelung durch Rumänien beruht, erst durch den Schiedsspruch vom 11. Dezember 2013 zuerkannt worden ist, der nicht nur das Bestehen dieses Anspruchs festgestellt, sondern auch dessen Höhe beziffert hat. Erst nach Abschluss des Schiedsverfahrens konnten nämlich die Investoren die tatsächliche Zahlung der Entschädigung erreichen, auch wenn diese zum Teil auf den Ersatz des Schadens gerichtet ist, der ihnen während eines Zeitraums vor dem Beitritt Rumäniens zur Union entstanden sein soll.
In Anbetracht dessen, dass die betreffende Beihilfemaßnahme nach dem Beitritt Rumäniens zur Union gewährt worden ist, hat das Gericht somit einen Rechtsfehler begangen, als es festgestellt hat, dass die Kommission für den Erlass des streitigen Beschlusses nach Art. 108 AEUV in zeitlicher Hinsicht nicht zuständig gewesen sei.
Der Gerichtshof führt aus, dass die Frage, ob die durch den Schiedsspruch zuerkannte Entschädigung eine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellen kann, nicht in seine Zuständigkeit im Rahmen des Rechtsmittels fällt, da sie vom Gericht nicht geprüft worden ist. Die Zuständigkeit der Kommission nach Art. 108 AEUV kann aber keinesfalls vom Ausgang der Prüfung dieser Frage abhängen, da die von der Kommission gemäß dieser Bestimmung ausgeübte präventive Kontrolle u. a. bezweckt, zu ermitteln, ob die in Rede stehende Entschädigung eine staatliche Beihilfe darstellt oder nicht.
Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass das Gericht auch einen Rechtsfehler begangen hat, als es entschieden hat, dass das Urteil Achmea3 des Gerichtshofs im vorliegenden Fall nicht relevant sei.
In diesem Urteil hat der Gerichtshof entschieden, dass die Art. 267 und 344 AEUV einer internationalen Übereinkunft zwischen zwei Mitgliedstaaten entgegenstehen, nach der ein Investor eines dieser Mitgliedstaaten im Fall einer Streitigkeit über Investitionen in dem anderen Mitgliedstaat gegen diesen ein Verfahren vor einem Schiedsgericht einleiten darf, dessen Gerichtsbarkeit sich dieser Mitgliedstaat unterworfen hat. Durch den Abschluss eines solchen Abkommens erklären sich die Mitgliedstaaten nämlich damit einverstanden, Rechtsstreitigkeiten, die die Anwendung oder die Auslegung des Unionsrechts betreffen können, der Zuständigkeit ihrer eigenen Gerichte und damit dem System von gerichtlichen Rechtsbehelfen zu entziehen, dessen Schaffung ihnen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen vorschreibt.
Im vorliegenden Fall steht fest, dass die von den schwedischen Investoren verlangte Entschädigung auch Schäden betraf, die nach dem Tag des Beitritts Rumäniens zur Union entstanden sein sollen, ab dem das Unionsrecht, u. a. die Art. 107 und 108 AEUV, in diesem Mitgliedstaat galt. Insoweit konnte nicht davon ausgegangen werden, dass die beim Schiedsgericht anhängig gemachte Streitigkeit in all ihren Aspekten auf einen Zeitraum begrenzt war, in dem Rumänien noch nicht der Union beigetreten war und daher noch nicht an die sich aus dem Urteil Achmea ergebenden Regeln und Grundsätze gebunden war. Darüber hinaus ist das Schiedsgericht unstreitig nicht Teil des Gerichtssystems der Union, dessen Schaffung Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV den Mitgliedstaaten in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen vorschreibt.
Unter diesen Umständen ist die von Rumänien zu dem vom BIT vorgesehenen Schiedssystem erteilte Zustimmung infolge des Beitritts dieses Mitgliedstaats zur Union gegenstandslos geworden.
Nach alledem hebt der Gerichtshof das angefochtene Urteil auf und verweist die Sache an das Gericht zurück, damit es über die vor ihm geltend gemachten Klagegründe und Argumente zur materiellen Rechtmäßigkeit des streitigen Beschlusses und insbesondere über die Frage entscheidet, ob die von diesem Beschluss betroffene Maßnahme die tatbestandlichen Voraussetzungen von Art. 107 Abs. 1 AEUV erfüllt.
1 Beschluss (EU) 2015/1470 der Kommission vom 30. März 2015 über die von Rumänien durchgeführte staatliche Beihilfe SA.38517 (2014/C) (ex 2014/NN) – Schiedsspruch vom 11. Dezember 2013 in der Sache Micula/Rumänien (ABl. 2015, L 232, S. 43).
2 Urteil des Gerichts vom 18. Juni 2019, European Food u. a./Kommission, T-624/15, T-694/15 und T-704/15.
3 Urteil des Gerichtshofs vom 6. März 2018, Achmea, C-284/16 (siehe auch Pressemitteilung Nr. 26/18).