Der Europäische Gerichtshof hat am 06.10.2021 zum Aktenzeichen C-50/19 P, C-51/19 P, C-64/19 P, C-52/19 P, C-53/19 P, C-65/19 P, C-54/19 P, C-55/19 P die Rechtsmittel gegen die Urteile des Gerichts zurückgewiesen, mit denen die Einstufung der spanischen Steuerregelung über die Abschreibung des finanziellen Geschäfts- oder Firmenwerts („goodwill“) als mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe bestätigt wurde.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 170/2021 vom 06.10.2021 ergibt sich:
Im Jahr 2007 eröffnete die Kommission aufgrund mehrerer schriftlicher Anfragen von Mitgliedern des Europäischen Parlaments und aufgrund einer Beschwerde eines privaten Wirtschaftsteilnehmers ein förmliches Verfahren zur Prüfung der Vereinbarkeit der spanischen Steuervorschriften über die steuerliche Abschreibung des finanziellen Geschäfts- oder Firmenwerts („goodwill“) bei Erwerb von Beteiligungen durch gebietsansässige Gesellschaften an anderen Unternehmen mit den Bestimmungen des AEU-Vertrags über staatliche Beihilfen.
Gemäß einer im Jahr 2001 in das spanische Körperschaftsteuergesetz eingeführten steuerlichen Maßnahme (im Folgenden: fragliche steuerliche Maßnahme) kann der finanzielle Geschäfts- oder Firmenwert, der sich aus dem Erwerb von Beteiligungen von mindestens 5 % durch ein gebietsansässiges Unternehmen an einer ausländischen Gesellschaft ergibt, in Form einer Abschreibung von der Bemessungsgrundlage der von dem gebietsansässigen Unternehmen geschuldeten Körperschaftsteuer abgezogen werden, sofern es die Beteiligung mindestens ein Jahr lang ununterbrochen hält. Dagegen führt der Erwerb von Beteiligungen der in Spanien steuerpflichtigen Unternehmen an anderen gebietsansässigen Unternehmen außer im Fall der Unternehmensverschmelzung nicht zu einer Abschreibung des finanziellen Geschäfts- oder Firmenwerts.
Mit Entscheidung vom 28. Oktober 2009 (Entscheidung 2011/5/EG der Kommission vom 28. Oktober 2009 über die steuerliche Abschreibung des finanziellen Geschäfts- oder Firmenwerts bei Erwerb von Beteiligungen an ausländischen Unternehmen C 45/07 (ex NN 51/07, ex CP 9/07) in Spanien (ABl. 2011, L 7, S. 48) und Beschluss vom 12. Januar 2011 (Beschluss 2011/282/EU der Kommission vom 12. Januar 2011 über die steuerliche Abschreibung des finanziellen Geschäfts- oder Firmenwerts bei Erwerb von Beteiligungen an ausländischen Unternehmen C 45/07 (ex NN 51/07, ex CP 9/07) in Spanien (ABl. 2011, L 135, S. 1). Dieser Beschluss war Gegenstand zweier Berichtigungen, die am 3. März 2011 und am 26. November 2011 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurden – im Folgenden: streitige Entscheidungen) stellte die Kommission fest, dass es sich bei der fraglichen steuerlichen Maßnahme um eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilferegelung handele, und verpflichtete Spanien, die gewährten Beihilfen zurückzufordern.
Das Gericht, bei dem mehrere Nichtigkeitsklagen von Unternehmen mit Sitz in Spanien (U.A. die Autogrill España SA (jetzt World Duty Free Group SA), die Banco Santander SA und die Santusa Holding SL.) anhängig waren, erklärte die streitigen Entscheidungen mit Urteilen vom 7. November 2014 (T-219/10 „Autogrill España/Kommission sowie T-399/11 „Banco Santander und Santusa/Kommission) für nichtig, da es der Auffassung war, dass die Kommission die Selektivität der fraglichen steuerlichen Maßnahme nicht nachgewiesen habe. Die Selektivität ist eines der notwendigen kumulativen Kriterien für die Einstufung einer nationalen Maßnahme als staatliche Beihilfe.
Auf die von der Kommission eingelegten Rechtsmittel hin hob der Gerichtshof diese Urteile im Wesentlichen mit der Begründung auf, dass sie auf einem falschen Verständnis des Tatbestandsmerkmals der Selektivität eines Vorteils beruhten, und verwies die Sachen an das Gericht zurück (EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2016, Kommission/World Duty Free Group u. a., C-20/15 P und C-21/15 P). Nach Zurückverweisung bestätigte das Gericht die Selektivität der fraglichen steuerlichen Maßnahme und wies die gegen die streitigen Entscheidungen erhobenen Nichtigkeitsklagen ab (Urteile vom 15. November 2018, Banco Santander/Kommission, T-227/10, Sigma Alimentos Exterior/Kommission, T-239/11, Axa Mediterranean/Kommission, T-405/11, Prosegur Compañía de Seguridad/Kommission, T-406/11, World Duty Free Group/Kommission, T-219/10 RENV, sowie Banco Santander und Santusa/Kommission, T-399/11 RENV.
Der Gerichtshof (Große Kammer), der daraufhin mit Rechtsmitteln befasst worden ist, die von den klagenden Unternehmen und vom Königreich Spanien (im Folgenden: Rechtsmittelführer) eingelegt worden waren, hat diese Rechtsmittel zurückgewiesen und dabei seine Rechtsprechung zur Selektivität steuerlicher Maßnahmen präzisiert.
Würdigung durch den Gerichtshof
Zunächst hat der Gerichtshof die von der Kommission geltend gemachten Unzulässigkeitsgründe zurückgewiesen, wonach bestimmte von den Rechtsmittelführern im Rahmen ihrer Rechtsmittel vorgebrachte Argumente nicht vor dem Gericht geltend gemacht worden seien.
Insoweit hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die Rechtsmittelgründe und Argumente, die sich aus dem angefochtenen Urteil selbst ergeben und mit denen dessen Begründetheit aus rechtlichen Erwägungen in Frage gestellt worden ist, nicht als Änderung des vor dem Gericht verhandelten Streitgegenstands angesehen werden können. Das Vorbringen, mit dem die Rechtsmittelführer die Schlussfolgerungen in Frage gestellt haben, die sich aus der rechtlichen Entscheidung des Gerichts über die vor ihm erörterten Klagegründe ergaben, war daher zulässig.
Zur Selektivität der fraglichen steuerlichen Maßnahme hat der Gerichtshof sodann klargestellt, dass der bloße Umstand, dass diese Maßnahme allgemeinen Charakter hat, da sie von vornherein allen Unternehmen zugutekommen kann, die der Körperschaftsteuer unterliegen, je nachdem, ob sie bestimmte Transaktionen tätigen oder nicht, nicht ausschließt, dass sie selektiv sein kann. Es steht nämlich fest, dass das Tatbestandsmerkmal der Selektivität erfüllt ist, wenn die Kommission dartun kann, dass eine solche Maßnahme von der normalen in dem betreffenden Mitgliedstaat anwendbaren Steuerregelung abweicht und somit durch ihre konkreten Wirkungen eine Ungleichbehandlung von Wirtschaftsteilnehmern einführt, die sich im Hinblick auf das mit der normalen Steuerregelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden.
Um eine nationale steuerliche Maßnahme als selektiv einstufen zu können, muss die Kommission eine drei Schritte umfassende Methode anwenden. Zunächst muss sie die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltende allgemeine oder normale Steuerregelung ermitteln. Sodann muss sie dartun, dass die betreffende steuerliche Maßnahme von diesem Bezugssystem abweicht, da sie Unterscheidungen zwischen Unternehmen einführt, die sich im Hinblick auf das mit der allgemeinen oder normalen Steuerregelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden. Schließlich muss sie prüfen, ob die eingeführte Unterscheidung gerechtfertigt ist, weil sie sich aus der Natur oder dem Aufbau des Systems, in das sie sich einfügt, ergibt.
In Anbetracht dieser Erwägungen hat sich der Gerichtshof in den Rechtssachen C-51/19 P und C-64/19 P, C-52/19 P, C-53/19 P und C-65/19 P, C-54/19 P und C-55/19 P mit der Rüge der Rechtsmittelführer befasst, das Gericht habe bei der Bestimmung des Bezugssystems einen Fehler begangen.
In diesem Rahmen hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass sich die Bestimmung des Bezugssystems aus einer objektiven Prüfung des Inhalts, des Zusammenhangs und der konkreten Wirkungen der nach dem nationalen Recht anwendbaren Vorschriften ergeben muss. Daher ist, wenn die fragliche steuerliche Maßnahme untrennbar mit dem allgemeinen Steuersystem des betreffenden Mitgliedstaats verbunden ist, auf dieses System Bezug zu nehmen. Erweist sich dagegen, dass sich die in Rede stehende Maßnahme eindeutig von diesem allgemeinen System trennen lässt, so kann nicht ausgeschlossen werden, dass der zu berücksichtigende Bezugsrahmen enger ist als dieses allgemeine System oder sogar mit der Maßnahme selbst identisch ist, wenn sich diese als eine Norm mit eigenständiger rechtlicher Logik darstellt. Außerdem muss die Kommission bei der Bestimmung des Bezugssystems die grundlegenden Merkmale der Steuer berücksichtigen, wie sie der betreffende Mitgliedstaat definiert hat. Hingegen sind in diesem ersten Schritt der Prüfung der Selektivität die vom Gesetzgeber beim Erlass der zu prüfenden Maßnahme verfolgten Ziele nicht zu berücksichtigen.
Im vorliegenden Fall hat der Gerichtshof zunächst festgestellt, dass aus den streitigen Entscheidungen klar hervorgeht, dass das von der Kommission herangezogene Bezugssystem in den allgemeinen Vorschriften des Körperschaftsteuersystems besteht, die den Geschäfts- oder Firmenwert im Allgemeinen regeln.
Sodann hat der Gerichtshof das Vorbringen der Rechtsmittelführer zurückgewiesen, das Gericht habe sich bei der Bestimmung des Bezugssystems auf die Regelungstechnik gestützt, die der nationale Gesetzgeber für den Erlass der fraglichen steuerlichen Maßnahme gewählt habe, nämlich die Einführung einer Ausnahme von der allgemeinen Regel.
Hierzu hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Rückgriff des nationalen Gesetzgebers auf eine bestimmte Regelungstechnik wie die der Einführung einer Ausnahme von einer allgemeinen Regel zur Bestimmung des für die Prüfung der Selektivität maßgebenden Bezugssystems nicht ausreichen kann. Ein solcher abweichender Charakter kann sich aber gleichwohl als relevant erweisen, wenn sich daraus – wie im vorliegenden Fall – ergibt, dass zwei Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern voneinander unterschieden werden und a priori unterschiedlich behandelt werden, nämlich diejenigen, die unter die abweichende Maßnahme fallen, und diejenigen, die weiterhin unter die allgemeine Steuerregelung fallen. Somit hat das Gericht bei der Prüfung der Selektivität der fraglichen steuerlichen Maßnahme zu Recht neben anderen Erwägungen auch deren abweichenden Charakter berücksichtigt.
In der Rechtssache C-50/19 P hat der Gerichtshof außerdem bestätigt, dass eine nationale Maßnahme auch in dem Fall selektiv sein kann, dass der Vorteil, den sie vorsieht, nicht von den Merkmalen des begünstigten Unternehmens abhängt, sondern von der Transaktion, die es beschließt vorzunehmen oder nicht. Somit kann eine Maßnahme als selektiv angesehen werden, wenn sie nicht ex ante eine bestimmte Gruppe von Begünstigten festlegt und wenn alle im betreffenden Mitgliedstaat niedergelassenen Unternehmen, unabhängig von ihrer Größe, ihrer Rechtsform, ihrem Tätigkeitsbereich oder anderen ihnen eigenen Merkmalen potenziell Zugang zu dem durch diese Maßnahme vorgesehenen Vorteil haben, sofern sie eine bestimmte Art von Investition tätigen. Die Feststellung einer Selektivität ergibt sich nämlich nicht zwangsläufig daraus, dass es für bestimmte Unternehmen wegen der ihnen eigenen Merkmale unmöglich ist, in den Genuss dieses Vorteils zu kommen, sondern sie kann auch allein aus der Feststellung folgen, dass es eine Transaktion gibt, die, obwohl sie vergleichbar ist mit derjenigen, von der die Gewährung des betreffenden Vorteils abhängt, keinen Anspruch auf diesen Vorteil begründet und folglich nur die Unternehmen begünstigt werden, die sich dafür entscheiden, diese Transaktion zu tätigen.
Schließlich hat der Gerichtshof festgestellt, dass das Gericht in allen in Rede stehenden Rechtssachen, indem es im zweiten Schritt der Selektivitätsprüfung die Aufrechterhaltung einer gewissen Kohärenz zwischen der steuerlichen Behandlung und der buchhalterischen Behandlung des Geschäfts- oder Firmenwerts als Ziel des von ihm ermittelten Bezugssystems angeführt hat, die Begründung der streitigen Entscheidungen durch seine eigene Begründung ersetzt hat und damit einen Rechtsfehler begangen hat.
Dieser Fehler kann jedoch nicht zur Aufhebung der angefochtenen Urteile führen, da deren jeweiliger Tenor auf andere Rechtsgründe gestützt ist. Insoweit hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass sich das Gericht zu Recht auf seine Rechtsprechung bezogen hat, wonach die Vergleichbarkeitsprüfung, die im zweiten Schritt der Selektivitätsprüfung vorzunehmen ist, im Hinblick auf das Ziel des Bezugssystems und nicht auf das Ziel der streitigen Maßnahme erfolgen muss. Somit hat das Gericht zu Recht festgestellt, dass sich die Unternehmen, die Beteiligungen an ausländischen Gesellschaften erwerben, im Hinblick auf das mit der steuerlichen Behandlung des Geschäfts- oder Firmenwerts verfolgte Ziel in einer tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden, die mit derjenigen der Unternehmen, die Beteiligungen an gebietsansässigen Gesellschaften erwerben, vergleichbar ist. Insoweit konnten die Rechtsmittelführer insbesondere nicht nachweisen, dass sich die Unternehmen, die Beteiligungen an ausländischen Gesellschaften erwerben, in einer anderen und damit nicht mit der von Unternehmen, die Beteiligungen in Spanien erwerben, vergleichbaren rechtlichen und tatsächlichen Situation befinden.