Schülerin hat Anspruch auf Eilrechtsschutz bei Schulplatzklage

23. Mai 2019 -

Das BVerfG hat mit Beschluss vom 12. März 2019 zum Aktenzeichen 1 BvR 2721/16 entschieden, dass eine Schülerin im Falle der Ablehnung durch die Wunschschule einen Anspruch auf eine Eilentscheidung hat, bei der die Verwaltungsgerichte, die eine Abwägung und Folgenentscheidung vornehmen muss.

Für die weitere schulische Ausbildung der Beschwerdeführerin nach der Grundschule im gymnasialen Bildungsgang ab dem Schuljahr 2016/17 wurde die C.-Schule als Erstwunsch benannt. Diese lehnte eine Aufnahme ab. Den stattdessen angebotenen Platz im Gymnasium N. in F. nahmen die Beschwerdeführer nicht an.

Die Beschwerdeführerin erhob gegen die Ablehnung ihrer Aufnahme an die Wunschschule Widerspruch sowie Drittwiderspruch gegen die Aufnahme einer anderen Schülerin. Das Verwaltungsgericht lehnte ihren Antrag ab, das Land im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, sie vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache in die C.-Schule aufzunehmen oder hilfsweise ein erneutes Auswahlverfahren durchzuführen. Die hiergegen gerichtete Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof mit im Wesentlichen folgenden Erwägungen zurückgewiesen:

Nach § 70 Abs. 1 Satz 2 HSchG gebe es keinen Anspruch auf Aufnahme in eine bestimmte Schule, wenn im Gebiet des Schulträgers – wie hier in F. – mehrere weiterführende Schulen desselben Bildungsganges bestünden. Es bestehe jedoch ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Auswahlentscheidung als Ausdruck des Teilhaberechts auf gleichberechtigten Zugang zu den von einem Hoheitsträger zur Verfügung gestellten Bildungsangeboten. Dieses Teilhaberecht auf Zugang zu einer bestimmten Schule habe nur im Rahmen der normativ festgelegten Aufnahmekapazität Bestand. Es gehe unter, wenn die Kapazität nach erfolgter Vergabe erschöpft sei und kein Fall vorliege, in dem ausnahmsweise eine überkapazitäre Aufnahme zu gewähren sei. Dies gelte unabhängig davon, ob die der Platzvergabe zugrundeliegende Auswahlentscheidung fehlerhaft sei. Die Wiederherstellung einer Aufnahmekapazität der Schule durch Rücknahme der rechtsfehlerhaft erfolgten Vergabe eines Platzes an einen anderen Bewerber komme im Hinblick auf dessen Vertrauensschutz sowie das im Normalfall lediglich relativ bessere Teilhaberecht des in einem defizitären Auswahlverfahren unterlegenen Schülers nicht in Betracht. Einer Erweiterung der rechtlich festgelegten Aufnahmekapazität einer Schule bis zur Grenze deren Funktionsfähigkeit in jedem Fall einer auf einer fehlerhaften Auswahlentscheidung beruhenden Ablehnung der Aufnahme eines Schülers stehe im Grundsatz entgegen, dass in den verordnungsrechtlich festgelegten Schülerhöchstzahlen pädagogische Erfahrungswerte zum Ausdruck kämen, bis zu welcher Klassenstärke eine erfolgreiche Erziehungs- und Bildungsarbeit gewährleistet sei. Die Zulassung einer überkapazitären Aufnahme bedeutete daher eine nicht zu rechtfertigende Beeinträchtigung der Bildungsansprüche der aufgenommenen Schüler. Anders als im Fall der Versagung des Hochschulzugangs, in dem bei einer defizitären Auswahlentscheidung ein überkapazitärer Aufnahmeanspruch bejaht werde, gehe es hier nur um die Aufnahme in die gewünschte Schule, nicht jedoch um den Zugang zum weiterführenden Bildungsgang selbst.

Lediglich im Ausnahmefall komme in Betracht, dass die Erschöpfung der Kapazität nicht den Untergang des Teilhaberechts zur Folge habe. Ein solcher Fall sei zum einen gegeben, wenn eine Schule in Einklang mit den normativen Vorgaben die Schülerhöchstzahlen erhöhe und die Aufnahme des abgelehnten Schülers infolge dieser höheren Kapazität möglich sei. Zum anderen liege ein Ausnahmefall vor, wenn die auf einer fehlerhaften Auswahlentscheidung beruhende Ablehnung nicht nur das im Hinblick auf die Aufnahme in diese bestimmte Schule bestehende Teilhaberecht des Schülers beeinträchtige, sondern darüber hinaus sein Recht auf Besuch eines bestimmten weiterführenden Bildungsganges. In einem solchen Fall bestehe über die normativ festgelegte Kapazitätsgrenze hinaus eine Aufnahmemöglichkeit bis zur äußersten Grenze der Funktionsfähigkeit der Schule.

Ausgehend davon sei der Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine ermessensfehlerfreie Auswahlentscheidung durch die bereits erfolgte Vergabe der Plätze an dem Gymnasium C.-Schule an andere Schüler untergegangen, ohne dass es darauf ankomme, ob die von ihr gerügten Mängel des Aufnahme- und Verteilungsverfahrens vorlägen.

Dazu stellten die Verfassungsrichter fest:

Der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör ist eine Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken für das gerichtliche Verfahren. Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können. Da dies nicht nur durch tatsächliches Vorbringen, sondern auch durch Rechtsausführungen geschehen kann, gewährleistet Art. 103 Abs. 1 GG dem Verfahrensbeteiligten das Recht, sich nicht nur zu dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt, sondern auch zur Rechtslage zu äußern (vgl. BVerfGE 60, 175 <210>; 86, 133 <144>). Das Gericht hat den Vortrag der Beteiligten zu berücksichtigen, das heißt zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen der Beteiligten auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Die Gerichte brauchen nicht jedes Vorbringen der Beteiligten in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich zu bescheiden (vgl. BVerfGE 96, 205 <216 f.>; stRspr). Geht ein Gericht jedoch auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags eines Verfahrensbeteiligten zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert war (vgl. BVerfGE 86, 133 <146> m.w.N.). Das Maß der Erörterungspflicht des Gerichts wird dabei nicht nur durch die Bedeutung des Vortrags der Beteiligten für das Verfahren bestimmt, sondern auch durch die Schwere eines zur Überprüfung gestellten Grundrechtseingriffs (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Februar 2004 – 2 BvR 1621/03 -, www.bverfg.de, Rn. 14).

Die Beschwerdeführerin hat in ihrem Beschwerdeschriftsatz vom 14. September 2016 vorgetragen, bis zum Schuljahr 2015/16 hätten die Schulen vor der Vergabe der Schulplätze über die beabsichtigte Ablehnung der Aufnahme in der Wunschschule informiert. Dadurch sei es möglich gewesen, rechtzeitig vor der Platzvergabe, die nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs bei Kapazitätserschöpfung zum Untergang des Anspruchs auf ermessensfehlerfreie Auswahlentscheidung (Teilhabeanspruch) führe, vorläufigen Rechtsschutz zu erlangen. Für das Schuljahr 2016/17 sei den Schulen erstmals untersagt worden, solche Informationen vor der Platzvergabe zu erteilen. Somit habe für die Beschwerdeführerin keine Möglichkeit bestanden, ihren Teilhabeanspruch vor einer Vergabe der Schulplätze im Wege vorläufigen Rechtsschutzes zu sichern. Unter Zugrundelegung der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zum Untergang des Teilhabeanspruchs bei einer kapazitätserschöpfenden Vergabe komme dies einer Vereitelung des Rechtsschutzes gleich. Allein das Vertrauen von Schülern auf den Bestand der Aufnahmeentscheidung dürfe nicht dazu führen, dass der verfassungsrechtlich gebotene Rechtsschutz unterlaufen werde. Daher müssten fehlerhafte Auswahlentscheidungen auch noch nach der Platzvergabe korrigiert werden können, um Kapazität für eine Durchsetzung des Anspruchs auf ermessensfehlerfreie Auswahlentscheidung zu schaffen. Danach habe die Beschwerdeführerin nach den von ihrer Wunschschule festgelegten Auswahlkriterien einen innerkapazitären Anspruch auf Aufnahme; dementsprechend habe sie gegen die Aufnahme einer anderen Schülerin Drittwiderspruch erhoben.

Auf dieses Vorbringen der Beschwerdeführerin, das für das Verfahren erkennbar von zentraler Bedeutung war, ist der Verwaltungsgerichtshof im angegriffenen Beschluss vom 29. September 2016 nicht eingegangen. Es wird lediglich die bisherige Rechtsprechung zum Untergang des Teilhaberechts bei einer kapazitätserschöpfenden Vergabe wiederholt, der wegen des Schutzes des Vertrauens auf den Bestand der Vergabe und das im Normalfall nur relativ bessere Teilhaberecht des in einem defizitären Auswahlverfahren unterlegenen Schülers auch bei Mängeln der der Platzvergabe zugrundeliegenden Auswahlentscheidung greife, sowie auf die in der Rechtsprechung entwickelten Ausnahmefälle für eine überkapazitäre Aufnahme verwiesen. Es findet keine Erörterung der mit der Beschwerde aufgeworfenen Frage statt, ob der Wegfall der Möglichkeit vorläufigen Rechtsschutzes vor einer Platzvergabe infolge der nach Angaben der Beschwerdeführerin geänderten Verwaltungspraxis bezogen auf die innerkapazitäre Verteilung der Schulplätze eine Neubewertung des Vertrauensschutzes der nach den Auswahlkriterien zu Unrecht aufgenommenen Schüler zur Folge haben müsste, um effektiven Rechtsschutz zu gewähren (vgl. BVerfGE 116, 135 <155 ff.> zur fehlenden Möglichkeit von Primärrechtsschutz gegen Vergabeentscheidungen unterhalb der Schwellenwerte einerseits; BVerfGE 134, 242 <299 f. Rn. 140 ff.> zum effektiven Rechtsschutz bei Enteignungen andererseits). Auch finden sich keine Erwägungen zu dem Vorbringen der Beschwerdeführerin, dass angesichts der geänderten Verwaltungspraxis die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zur Möglichkeit nachträglicher überkapazitärer Aufnahme in bestimmten Ausnahmefällen auf Fälle zu erstrecken sei, in denen feststeht, dass der abgelehnte Schüler bei ordnungsgemäßer Durchführung des Auswahlverfahrens in die Wunschschule hätte aufgenommen werden müssen.

Die fehlende Auseinandersetzung mit dem Vorbringen der Beschwerdeführerin ist nicht dem Umstand geschuldet, dass der Verwaltungsgerichtshof sich für das hier vorliegende Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes von einem eingeschränkten Prüfungsmaßstab wie etwa einer Folgenabwägung hat leiten lassen. Vielmehr hat das Gericht mit Blick auf die Vorwegnahme der Hauptsache bei einer vorläufigen Aufnahme in die Schule als Maßstab für seine Prüfung angesetzt, ob es ganz überwiegend wahrscheinlich ist, dass hierauf ein Anspruch besteht. Es hat einen solchen Anspruch dann aus Rechtsgründen verneint. Somit war das Vorbringen der Beschwerdeführerin entscheidungserheblich.

Art. 19 Abs. 4 GG verlangt regelmäßig die Möglichkeit fachgerichtlichen Eilrechtsschutzes, wenn ohne sie dem Betroffenen eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden könnte (vgl. BVerfGE 93, 1 <13 f.>; 126, 1 <27>; stRspr). Im Verfahren des fachgerichtlichen Eilrechtsschutzes dürfen Entscheidungen grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Hierbei ist dem Gewicht der in Frage stehenden und gegebenenfalls miteinander abzuwägenden Grundrechte Rechnung zu tragen, um eine etwaige Verletzung von Grundrechten nach Möglichkeit zu verhindern (vgl. BVerfGE 126, 1 <28>). Besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens stellt Art. 19 Abs. 4 GG, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können. Die Gerichte müssen in derartigen Fällen, wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren wollen, die Sach- und Rechtslage regelmäßig nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Juni 2018 – 1 BvR 733/18 -, MDR 2018, S. 1073 <1074 Rn. 4> m.w.N.).