Generalanwalt Saugmandsgaard Øe hat im Verfahren C-18/20 vor dem Europäischen Gerichtshof seine Schlussanträge zu der Frage vorgelegt, unter welchen Voraussetzungen Folgeanträge auf internationalen Schutz angesichts des rechtskräftigen Abschlusses eines früheren Asylverfahrens als unzulässig zurückgewiesen werden dürfen.
Aus der Pressemitteilung des EuGH vom 15.04.2021 ergibt sich:
Ein irakischer Staatsangehöriger beanstandet vor dem österreichischen Verwaltungsgerichtshof, dass sein zweiter Antrag auf internationalen Schutz (sog. Folgeantrag, nachdem sein erster Antrag bestandskräftig abgelehnt wurde) als unzulässig zurückgewiesen wurde.
Den ersten Antrag hatte der Betroffene allein damit begründet, dass er bei einer Rückkehr in den Irak der Gefahr ausgesetzt wäre, getötet zu werden, weil er sich geweigert habe, der Aufforderung schiitischer Milizen nachzukommen, für sie zu kämpfen, und weil die innere Lage im Irak wegen des dort herrschenden Kriegs sehr schlecht sei. Den zweiten Antrag begründete er hingegen damit, homosexuell zu sein; was im Irak und „in seiner Religion“ verboten sei. Da ihm seine Homosexualität bereits im ersten Asylverfahren bekannt war, er sie dort aber nicht geltend gemacht hatte, wurde dieser Antrag für unzulässig erklärt (wegen Rechtskrafterstreckung der Entscheidung über den ersten Antrag).
Der Verwaltungsgerichtshof hat dem EuGH in diesem Zusammenhang um Auslegung der Richtlinie 2013/32/EU zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes ersucht, die u. a. regelt, welche Voraussetzungen die Mitgliedstaaten festlegen dürfen, um einen Folgeantrag auf internationalen Schutz aus Gründen der Rechtskraft für unzulässig zu erklären.
In seinen Schlussanträgen vom 15.04.2021 vertritt Generalanwalt Saugmandsgaard Øe die Ansicht, dass sich ein Folgeantrag grundsätzlich auch auf Umstände und Tatsachen stützen könne, die bereits vor rechtskräftigem Abschluss des früheren Asylverfahrens vorlagen, aber vom Antragsteller in diesem Verfahren nicht geltend gemacht wurden.
Seines Erachtens verlangt die Richtlinie grundsätzlich kein besonderes Verfahren für die inhaltliche Prüfung eines Folgeantrags. Sie hindere den nationalen Gesetzgeber daher grundsätzlich nicht daran, einerseits ein neues Verwaltungsverfahren für Folgeanträge vorzusehen, die auf neue Elemente oder Erkenntnisse gestützt werden, die erst nach rechtskräftigem Abschluss des ersten Verfahrens entstanden seien, und andererseits eine Wiederaufnahme des ersten abgeschlossenen Verfahrens für Folgeanträge in Betracht zu ziehen, mit denen Elemente oder Erkenntnisse geltend gemacht werden, die bereits während des ersten Verfahrens bestanden, in diesem Verfahren aber nicht vorgebracht wurden.
Das nationale Verfahren müsse jedoch den Anforderungen von Kapitel II der Richtlinie entsprechen. Die in § 69 Abs. 1 Z 2 des österreichischen Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes (AVG) vorgesehene Wiederaufnahme scheine diesen Anforderungen zu entsprechen, was letztlich jedoch das Bundesverwaltungsgericht beurteilen müsse.
Sodann prüft der Generalanwalt, ob die Voraussetzungen, die nach § 69 AVG für die Zulässigkeit von Folgeanträgen gelten, mit der Richtlinie vereinbar sind. Nach § 69 AVG ist ein abgeschlossenes Verfahren wieder aufzunehmen, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalt des Spruches anderslautenden Bescheid herbeigeführt hätten. Ein Antrag auf Wiederaufnahme ist binnen zwei Wochen nach dem Zeitpunkt einzubringen, in dem der Antragsteller von dem Wiederaufnahmegrund Kenntnis erlangt hat, und kann nach Ablauf von drei Jahren nach Erlassung des bestandskräftigen Bescheids nicht mehr gestellt werden.
Nach Ansicht des Generalanwalts dürften die beiden Voraussetzungen (i) der Wahrscheinlichkeit einer Änderung des Ergebnisses des ersten abgeschlossenen Verfahrens bei Berücksichtigung der neuen Umstände oder Tatsachen und (ii) des Fehlens eines Verschuldens des Antragstellers ohne Weiteres mit den in der Richtlinie vorgesehenen Zulässigkeitsvoraussetzungen vereinbar sein.
Hingegen verbiete die Richtlinie die Festsetzung von Ausschlussfristen. Diese Fristen wie in § 69 AVG seinen daher unangewendet zu lassen. Im vorliegenden Fall sei der Folgeantrag von XY allerdings nicht im Hinblick auf diese Fristen, sondern allein aus Gründen der Rechtskraft zurückgewiesen worden.