Generalanwalt Hogan ist vor dem Europäischen Gerichtshof im Verfahren C-110/20 der Auffassung, dass ein Mitgliedstaat nicht zur flächenmäßigen Begrenzung der Gebiete verpflichtet ist, in denen ein einzelner Betreiber die Prospektion, Exploration und Gewinnung von Kohlenwasserstoffen wie Erdöl und Erdgas durchführen darf. Die Mitgliedstaaten müssen allerdings für alle öffentlichen und privaten Betreiber unabhängig von ihrer Nationalität einen nichtdiskriminierenden Zugang zu diesen Tätigkeiten gewährleisten und können deren Ausübung zum Schutz der Umwelt von bestimmten Bedingungen und Auflagen abhängig machen.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 114/2021 vom 24.06.2021 ergibt sich:
Global Petroleum, ein im Sektor für Offshore-Kohlenwasserstoffe tätiges australisches Unternehmen, stellte 2013 bei den italienischen Behörden vier gesonderte Anträge auf vier Explorationsgenehmigungen für aneinandergrenzende Gebiete im Adriatischen Meer vor der Küste der Region Apulien. Jeder Antrag betraf eine Fläche von etwas weniger als 750 km2. Nach italienischem Recht darf das Genehmigungsgebiet nicht größer als 750 km2 sein. 2016 und 2017 stellten die italienischen Behörden fest, dass die vier von Global Petroleum eingereichten Explorationsvorhaben auch bei Berücksichtigung ihrer kumulativen Auswirkungen umweltverträglich seien.
Die Regione Puglia (Region Apulien, Italien) erhob bei den italienischen Gerichten Klagen, mit denen Global Petroleum im Ergebnis daran gehindert werden soll, ein Gesamtgebiet von ungefähr 3 000 km2 im Meeresgrund auszubeuten. Die Region argumentierte, dass die Begrenzung von 750 km2 nicht nur für die einzelne Genehmigung, sondern auch für den einzelnen Betreiber gelten müsse, um eine „Umgehung“ der rechtlichen Regelung zu vermeiden. Vor diesem Hintergrund hat der Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien), das letztinstanzliche nationale Gericht, den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht. Das Gericht möchte wissen, ob die Richtlinie 94/22 über die Erteilung und Nutzung von Genehmigungen zur Prospektion, Exploration und Gewinnung von Kohlenwasserstoffen1 (E&P-Tätigkeiten) einen Mitgliedstaat verpflichtet, eine maximale und absolute Begrenzung für die Fläche der Gebiete festzulegen, in denen ein einzelner Betreiber diese Tätigkeiten ausüben kann.
In seinen Schlussanträgen vom 24.06.2021 schlägt Generalanwalt Hogan dem Gerichtshof vor, die Frage zu verneinen.
Seiner Auffassung nach steht die Richtlinie nationalen Rechtsvorschriften, wonach demselben Betreiber mehrere Genehmigungen (auch für aneinandergrenzende Gebiete) erteilt werden dürfen, auch dann nicht entgegen, wenn die Genehmigungen für ein insgesamt größeres Gebiet (und einen insgesamt längeren Zeitraum) gelten, als nach diesen Rechtsvorschriften für eine einzelne Genehmigung festgelegt.
Der Generalanwalt weist darauf hin, dass die Mitgliedstaaten das Recht behalten, innerhalb ihres Hoheitsgebiets zu bestimmen, welche Gebiete für E&P-Tätigkeiten zur Verfügung stehen. Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, ein optimales Gebiet für solche Tätigkeiten festzulegen. Sie verpflichtet die Mitgliedstaaten dagegen nicht, eine bestimmte geografische Fläche in absoluten Zahlen festzulegen (z. B. in km2) oder Genehmigungen für aneinandergrenzende Gebiete zu versagen. Außerdem regelt sie nicht, ob die Größe der Gebiete, die einem einzelnen Betreiber genehmigt werden können, begrenzt ist.
Der Generalanwalt betont, dass die Richtlinie die Mitgliedstaaten zur Festlegung objektiver und öffentlicher Kriterien für die Bestimmung solcher Gebiete verpflichtet. Er unterstreicht weiter, dass die Richtlinie 94/22 als Teil der Vorschriften über die öffentliche Auftragsvergabe Transparenz und Nichtdiskriminierung für den Zugang zu E&P-Tätigkeiten und deren Ausübung vorschreibt, um den Wettbewerb anzuregen und die weitere Integration des Binnenmarkts für Energie zu fördern. Die Richtlinie bezweckt daher, dass so viele geeignete öffentliche und private Betreiber wie möglich unabhängig von ihrer Nationalität um die Genehmigungen konkurrieren, um damit die bestmögliche Nutzung der Kohlenwasserstoffressourcen in der Union zu fördern.
Nach Auffassung des Generalanwalts soll die Richtlinie nicht die Schaffung einer beherrschenden Stellung verhindern; dies bezweckt nur die Fusionskontrollverordnung2, und zwar nur bei Zusammenschlüssen von zwei oder mehr Personen durch Fusion oder Erwerb. Daher könnte zwar ein Betreiber, der bereits über eine Genehmigung für E&P-Tätigkeiten in einem bestimmten Gebiet verfügt, in einer besseren Position sein, sich erfolgreich um weitere Genehmigungen für angrenzende Gebiete zu bewerben. Die dadurch erlangte beherrschende Stellung würde aber nicht gegen Unionsrecht verstoßen, da sie das Ergebnis einer Marktleistung und nicht eines Zusammenschlusses wäre.
Der Generalanwalt weist darauf hin, dass nach Art 11 AEUV die Erfordernisse des Umweltschutzes bei der Festlegung und Durchführung der Unionspolitiken und -maßnahmen insbesondere zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung einbezogen werden müssen. Wenn eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen ist, müssen die zuständigen nationalen Behörden deshalb die kumulativen Auswirkungen von Projekten berücksichtigen, um eine Umgehung der Unionsvorschriften durch Aufsplitterung von Projekten zu verhindern, die zusammengenommen erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt haben könnten.
Ferner stellt der Generalanwalt fest, dass die Mitgliedstaaten aus Gründen des Umweltschutzes und des Schutzes biologischer Ressourcen die Ausübung der E&P-Tätigkeiten von bestimmten Bedingungen und Auflagen abhängig machen können.
1 Richtlinie 94/22/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 1994 über die Erteilung und Nutzung von Genehmigungen zur Prospektion, Exploration und Gewinnung von Kohlenwasserstoffen (ABl. 1994, L 164, S. 3).
2 Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen („EG-Fusionskontrollverordnung“) (ABl. 2004, L 24, S. 1).