Generalanwalt Collins: Britische Staatsangehörige, die die Vorteile der Unionsbürgerschaft genossen haben, können diese Vorteile nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU nicht behalten.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 39/22 vom 24.02.2022 ergibt sich:
Der Verlust dieser Rechte ist eine der Folgen der souveränen Entscheidung des Vereinigten Königreichs, aus der Europäischen Union auszutreten.
EP wohnt seit 1984 in Frankreich und ist mit einem französischen Staatsangehörigen verheiratet. Sie hat die französische Staatsangehörigkeit durch Eheschließung nicht erworben, da sie als ehemalige Beamtin des damaligen Foreign and Commonwealth Office (Ministerium für auswärtige Angelegenheiten und Commonwealth-Fragen) des Vereinigten Königreichs einen Treueeid auf die Königin von England geleistet habe. Mit Inkrafttreten des Austrittsabkommens wurde EP durch das INSEE1 aus dem Wählerverzeichnis der Gemeinde Thoux (Frankreich) gestrichen. Sie konnte daher nicht an den Kommunalwahlen vom 15. März und 28. Juni 2020 teilnehmen.
EP beantragte am 6. Oktober 2020 ihre Wiedereintragung in das Wählerverzeichnis für nicht französische Unionsbürger. Diesen Antrag lehnte der Bürgermeister der Gemeinde Thoux am folgenden Tag ab. Daraufhin legte EP die Angelegenheit dem Wahlausschuss der Gemeinde Thoux vor. Dieses Organ teilte mit, dass es erst im März 2021 wieder zusammentreten werde, was von EP als konkludente Bestätigung der Entscheidung des Bürgermeisters vom 7. Oktober 2020 aufgefasst wurde. Dementsprechend erhob EP gegen diese Entscheidung am 9. November 2020 Klage beim Tribunal judiciaire d’Auch (Ordentliches Gericht Auch, im Folgenden: vorlegendes Gericht).
Das vorlegende Gericht hat im Rahmen eines Rechtsstreits darüber, ob EP, eine britische Staatsangehörige, weiterhin das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen in Frankreich besitzt, vier Fragen gestellt. Mit der ersten und der zweiten Frage wurde gefragt, ob britische Staatsangehörige oder ein Teil von ihnen weiterhin Unionsbürger sind und in den Genuss der Vorteile dieser Rechtsstellung kommen. Falls dies nicht der Fall ist, wird der Gerichtshof mit der dritten und der vierten Frage nach der Gültigkeit des Austrittsabkommens2, insbesondere im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, gefragt.
In seinen heutigen Schlussanträgen vertritt Generalanwalt Collins zunächst die Auffassung, dass die Unionsbürgerschaft zu der von den Mitgliedstaaten verliehenen Staatsangehörigkeit hinzutrete, diese aber nicht ersetze. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere in den Urteilen Rottmann3, Tjebbes4 und jüngst Wiener Landesregierung5, werde ausdrücklich anerkannt, dass die Befugnis, darüber zu bestimmen, wer Staatsangehöriger und somit Unionsbürger sei, weiterhin bei den Mitgliedstaaten liege.
Generalanwalt Collins geht sodann auf die Folgen des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union ein. Ein britischer Staatsangehöriger besitze seit dem Inkrafttreten des Austrittsabkommens nicht mehr das aktive und passive Wahlrecht als Unionsbürger bei Kommunalwahlen in seinem Wohnsitzmitgliedstaat. Daraus folge, dass britische Staatsangehörige seit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union keine Unionsbürger mehr seien. Nach den Bestimmungen des Austrittsabkommens seien ihnen zwar während des Übergangszeitraums noch bestimmte Rechte eingeräumt worden, hierzu hätten jedoch nicht das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat gehört.
Soweit sich infolge des Verlusts der Unionsbürgerschaft im Anschluss an das Austrittsabkommen daraus, dass EP ihren Wohnsitz außerhalb des Vereinigten Königreichs gehabt habe, Rechtsfolgen für die Ausübung des Wahlrechts bei den Wahlen dieses Staats ergäben, seien dies Fragen des Verhältnisses zwischen ihr und dem Vereinigten Königreich, einem Drittstaat, die somit nicht in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fielen. Außerdem könnten nach den Bestimmungen des Austrittsabkommens und des AEUV britische Staatsangehörige die Rechte aus der Unionsbürgerschaft, die sie vor dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union innegehabt hätten, nicht ohne Einschränkung behalten.
Schließlich wendet sich Generalanwalt Collins der Frage zu, ob der Beschluss 2020/135 über den Abschluss des Austrittsabkommens ungültig sei, soweit durch ihn mit Blick auf den Inhalt des Austrittsabkommens britischen Staatsangehörigen, die in einem Mitgliedstaat wohnten und nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besäßen, nicht das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen verliehen werde. Hierzu führt Generalanwalt Collins aus, dass in Anbetracht des seit dem Austritt aus der Europäischen Union bestehenden Status des Vereinigten Königreichs als Drittland nicht beanstandet werden könne, dass der Beschluss 2020/135 britischen Staatsangehörigen weder während des Übergangszeitraums noch danach das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen im Mitgliedstaat ihres Wohnsitzes gewähre. Der Verlust dieser Rechte sei eine der Folgen der souveränen Entscheidung des Vereinigten Königreichs, aus der Europäischen Union auszutreten. An dieser Schlussfolgerung ändere auch der Umstand nichts, dass nach dem Beschluss 2020/135 in Verbindung mit dem Austrittsabkommen ausnahmsweise bestimmte Teile des Besitzstands während des Übergangszeitraums anwendbar gewesen seien, um den geordneten Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union zu gewährleisten, der nach seiner Präambel Ziel des Austrittsabkommens sei.
Es gebe somit weder eine rechtliche noch eine tatsächliche Grundlage für die Schlussfolgerung, dass die Europäische Union bei der Gestaltung der auswärtigen Beziehungen die Grenzen ihres Ermessens dadurch überschritten habe, dass sie den in der EU wohnenden britischen Staatsangehörigen nicht entweder im Wege einer einseitigen Entscheidung oder als Ergebnis von Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich nach dessen Austritt weiterhin die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen in einem Mitgliedstaat gestattet habe. Da die souveräne Entscheidung des Vereinigten Königreichs, aus der EU auszutreten, gleichbedeutend mit einer Ablehnung der der EU zugrunde liegenden Grundsätze sei und das Austrittsabkommen einen Vertrag zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich darstelle, um dessen geordneten Austritt aus der EU zu erleichtern, habe die Europäische Union nicht die Möglichkeit gehabt, darauf zu bestehen, dass das Vereinigte Königreich die Grundsätze, auf die die EU gründe, vollständig wahre. Die EU habe auch nicht Rechte, zu deren Durchsetzung sie jedenfalls nicht verpflichtet gewesen sei, zugunsten von Personen sichern können, die Staatsangehörige eines Staates seien, der aus der EU ausgetreten sei, und die daher keine Unionsbürger mehr seien.
1 Das Institut national de la statistique et des études économiques (INSEE) (Nationales Institut für Statistik und Wirtschaftsforschung) ist für die Streichung der Namen verstorbener oder nicht mehr wahlberechtigter Wähler aus dem Wählerverzeichnis zuständig.
2 Beschluss (EU) 2020/135 des Rates vom 30. Januar 2020 über den Abschluss des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft.
3 Urteil vom 2. März 2010, Rottmann, C-135/08, vgl. auch Pressemitteilung Nr. 15/10.
4 Urteil vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C-221/17, vgl. auch Pressemitteilung Nr. 26/19.
5 Urteil vom 18. Januar 2022, Wiener Landesregierung u. a., C-118/20, vgl. auch Pressemitteilung Nr. 5/22.