Nach Ansicht von Generalanwalt Athanasios Rantos im Verfahren C-821/19 vor dem Europäischen Gerichtshof hat Ungarn dadurch gegen seine unionsrechtlichen Verpflichtungen verstoßen, dass es die organisatorische Tätigkeit, die darauf abzielt, die Einleitung eines Verfahrens des internationalen Schutzes durch Personen zu ermöglichen, die die nationalen Kriterien für die Gewährung dieses Schutzes nicht erfüllen, unter Strafe gestellt hat.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 27/2021 vom 25.02.2021 ergibt sich:
Die Kriminalisierung dieser Tätigkeit behindert die Ausübung der Rechte, die der Unionsgesetzgeber im Bereich der Unterstützung für Personen, die internationalen Schutz beantragen, garantiert.
Durch eine Gesetzesreform von 2018 erschwerte Ungarn die Voraussetzungen für den Zugang zu den Verfahren des internationalen Schutzes und die Voraussetzungen für die Ausübung der Tätigkeiten, die darauf gerichtet sind, Beratungsleistungen für Personen zu erbringen, die diesen Schutz beantragen. Zum einen führte Ungarn für Anträge auf internationalen Schutz einen weiteren Unzulässigkeitsgrund ein, der die Durchreise des Antragstellers durch ein sicheres Transitland vor seiner Ankunft im ungarischen Hoheitsgebiet betrifft. Zum anderen stellte dieser Mitgliedstaat die organisatorische Tätigkeit, die darauf abzielt, die Einleitung eines Verfahrens des internationalen Schutzes durch Personen zu ermöglichen, die die nationalen Kriterien für die Gewährung dieses Schutzes nicht erfüllen, unter Strafe und sah in Bezug auf Personen, die wegen dieser Straftat verfolgt oder verurteilt worden sind, Beschränkungen vor.
Da die Kommission der Ansicht war, dass die Einführung des Unzulässigkeitsgrundes, der die Durchreise durch ein sicheres Transitland betrifft, die Kriminalisierung der genannten organisatorischen Tätigkeit und die Auferlegung weiterer Beschränkungen in Bezug auf Personen, die wegen dieser Tätigkeit verfolgt oder verurteilt worden sind, gegen die „Verfahrensrichtlinie“ (RL 2013/32/EU zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, ABl. 2013, L 180, 60) und gegen die „Aufnahmerichtlinie“ (RL 2013/33/EU zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, ABl. 2013, L 180, 96) verstießen, hat sie beim Gerichtshof eine Vertragsverletzungsklage gegen Ungarn erhoben.
In seinen Schlussanträgen vom 25.02.2021 weist Generalanwalt Athanasios Rantos zunächst darauf hin, dass der Gerichtshof mit seinem Urteil vom 19. März 2020 (C-564/18) bereits die Rechtswidrigkeit des von der Kommission gerügten Unzulässigkeitsgrundes festgestellt habe. Daher schlägt der Generalanwalt dem Gerichtshof vor, festzustellen, dass Ungarn mit der Einführung dieses Unzulässigkeitsgrundes gegen seine Verpflichtungen aus der „Verfahrensrichtlinie“ verstoßen hat.
Der Generalanwalt untersucht sodann den gerügten Verstoß gegen die unionsrechtlichen Vorschriften im Bereich der Unterstützung für Personen, die internationalen Schutz beantragen. Er nimmt insoweit zur Kenntnis, dass die Rechtsprechung des Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht, Ungarn) zu garantieren scheine, dass eine bloß humanitäre Hilfe für Notleidende und Bedürftige nicht einer rechtswidrigen organisatorischen Tätigkeit gleichgestellt werde. Allerdings hebt er hervor, dass abgesehen von diesem Fall jede Organisation oder Person, die eine Hilfe erbringe, die darauf gerichtet sei, die Einleitung eines Verfahrens des internationalen Schutzes zu ermöglichen, zwangsläufig in der Absicht handele, dem Betroffenen die Einleitung eines solchen Verfahrens zu ermöglichen. Daher könne eine solche Organisation oder Person zumindest Zweifel daran haben, ob der Betroffene die für die Gewährung dieses Schutzes erforderlichen Voraussetzungen erfülle oder nicht.
Zweifel am Wahrheitsgehalt der Behauptungen der Antragsteller seien dem Verfahren des internationalen Schutzes nämlich inhärent, das gerade zu dem Zweck durchgeführt werde, festzustellen, ob die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllt seien. Es sei Sache der zuständigen nationalen Behörden und nicht die von Rechtsberatern, Organisationen oder Personen, die Personen, die internationalen Schutz beantragten, Unterstützung anböten, zu beurteilen, ob die im Antrag angeführten Gründe die Gewährung von internationalem Schutz gemäß den nach nationalem Recht geforderten Voraussetzungen rechtfertigten.
Insoweit hebt der Generalanwalt hervor, dass die ungarischen Behörden im Rahmen der Anwendung des genannten rechtswidrigen Unzulässigkeitsgrundes Serbien für ein sicheres Transitland hielten. Daher sei bei jeder Person oder Organisation, die Personen, die nach Durchreise durch Serbien bei der Ankunft in Ungarn internationalen Schutz beantragten, unterstütze, davon auszugehen, dass sie wisse, dass deren Anträge sehr wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt seien und sie sich damit der konkreten Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzten.
Auch könne die Kriminalisierung der Unterstützung für Personen, die internationalen Schutz beantragten, eine besonders stark abschreckende Wirkung für alle Personen oder Organisationen haben, die wissentlich versuchten, eine Änderung der nationalen Rechtsvorschriften im Bereich des internationalen Schutzes zu fördern oder den Zugang der Antragsteller zum Verfahren des internationalen Schutzes oder zu humanitärer Hilfe zu erleichtern. Daher stellt nach Ansicht des Generalanwalts die Kriminalisierung der betreffenden organisatorischen Tätigkeit ein ungerechtfertigtes Hindernis für die Ausübung der im Bereich der Unterstützung von Personen, die internationalen Schutz beantragen, durch das Unionsrecht garantierten Rechte und folglich eine Verletzung der sich aus diesen Vorschriften ergebenden Verpflichtungen dar.
Schließlich ist der Generalanwalt in Bezug auf die ungarische Regelung, wonach den wegen Erleichterung der illegalen Einwanderung strafrechtlich verfolgten Personen verboten sei, in ein weniger als acht Kilometer von der Außengrenze des ungarischen Hoheitsgebiets entferntes Gebiet einzudringen, der Ansicht, dass sie die negativen Auswirkungen der Kriminalisierung der genannten organisatorischen Tätigkeit unbestreitbar verstärke. Allerdings verstoße diese Regelung für sich genommen nicht gegen das Unionsrecht, da sie es den Polizeibehörden nur ermöglichen solle, Personen, die der Begehung von Straftaten verdächtigt würden, den Zugang zu den mit diesen Straftaten zusammenhängenden Orten zu verbieten. Die Kommission habe nichts für den Nachweis des inhärent restriktiven Charakters der fraglichen Regelung vorgetragen, sondern sich auf den Hinweis beschränkt, dass diese Regelung die restriktive Wirkung der Kriminalisierung der betreffenden organisatorischen Tätigkeit verstärke. Daher schlägt der Generalanwalt dem Gerichtshof vor, die Klage abzuweisen, soweit die Kommission eine Vertragsverletzung nur auf der Grundlage dieser Regelung feststellen lassen wolle.