Schlussanträge zur richterlichen Unabhängigkeit in Ungarn

15. April 2021 -

Nach Ansicht von Generalanwalt Pikamäe vor dem Europäischen Gerichtshof im Verfahren C-564/19 IS muss nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ein nationales Gericht nationale Rechtsvorschriften oder eine Praxis der nationalen Gerichte, die sein Recht, den Gerichtshof zu befragen, beeinträchtigen, außer Acht lassen.

Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 60/2021 vom 15.04.2021 ergibt sich:

Die dieses Recht beeinträchtigende ungarische Regelung, die es der Generalstaatsanwaltschaft ermöglicht, beim Obersten Gerichtshof (Kúria) ein Verfahren einzuleiten, das auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Vorlagebeschlusses eines untergeordneten Strafgerichts gerichtet ist, sowie die diese Rechtswidrigkeit feststellende Entscheidung der Kúria seien nicht mit dem Unionsrecht vereinbar.

Im August 2015 wurde ein schwedischer Staatsangehöriger von den ungarischen Behörden wegen mutmaßlichen Verstoßes gegen die Vorschriften über den Umgang mit Waffen und Munition festgenommen und anschließend als Beschuldigter vernommen. Bei der Vernehmung, nach der er freigelassen wurde, wurde dem Beschuldigten über einen Dolmetscher der gegen ihn bestehende Verdacht mitgeteilt. Seither hält er sich außerhalb von Ungarn auf, und die an ihn gerichtete Ladung vor Gericht der ungarischen Behörden kam mit dem Vermerk „nicht abgeholt“ zurück.

Da die Anträge der Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit der in Rede stehenden Straftat sich auf eine einfache Geldstrafe beziehen, ist das Pesti Központi Kerületi Bíróság (Zentrales Stadtbezirksgericht Pest, Ungarn), bei dem das mit dieser Straftat zusammenhängende Strafverfahren anhängig ist, nach innerstaatlichem Recht verpflichtet, das Verfahren in Abwesenheit des Beschuldigten, der aber durch einen vom Staat bestellten Rechtsanwalt vertreten ist; fortzuführen.

Da es nach den Angaben des vorlegenden Gerichts weder einen Hinweis darauf gibt, wie der an der Vernehmung des Beschuldigten teilnehmende Dolmetscher ausgewählt wurde und wie seine Fähigkeiten überprüft worden sind, noch darauf, dass sich der Dolmetscher und der Beschuldigte gegenseitig verstanden hatten, zweifelt das Gericht, ob die ungarischen Behörden die Richtlinien über die Rechte beschuldigter Personen in Strafverfahren in der Union1 beachtet haben. Infolgedessen ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um die Auslegung der Bestimmungen dieser Richtlinien in Bezug auf die Tragweite des Rechts auf Dolmetschleistungen von ausreichender Qualität und des Rechts auf Unterrichtung über den erhobenen Tatvorwurf im speziellen Fall eines Abwesenheitsverfahrens.

Ferner fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof, ob die vorübergehende unmittelbare Ernennung auf gerichtliche Leitungsfunktionen durch die von der ungarischen Nationalversammlung ernannte Präsidentin des Országos Bírósági Hivatal (Landesgerichtsamt, Ungarn) und die – gemessen an ihren Aufgaben – als unzureichend beanstandete Besoldung ungarischer Richter einen Verstoß gegen den unionsrechtlichen Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit darstellen.

Schließlich möchte das ungarische Gericht auch wissen, ob es gegen das Unionsrecht verstößt, dass zum einen die Kúria (Oberster Gerichtshof, Ungarn) auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft den Vorlagebeschluss, ohne dessen Auswirkungen auf die vorliegende Rechtssache in Frage zu stellen, aufgrund der Unerheblichkeit der gestellten Fragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits für rechtswidrig erklärt, und dass zum anderen aus den gleichen Gründen gegen den vorlegenden Richter ein Disziplinarverfahren eingeleitet wird.

In seinen Schlussanträgen vom 15.04.2021 weist Generalanwalt Priit Pikamäe darauf hin, dass die Zulässigkeit einer Vorabentscheidungsfrage voraussetze, dass die beantragte Entscheidung des Gerichtshofs erforderlich ist, um dem vorlegenden Gericht seine Entscheidung in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen. Seiner Ansicht nach sind zunächst die Fragen zur vorübergehenden unmittelbaren Ernennung auf gerichtliche Leitungsfunktionen durch die Präsidentin des Landesgerichtsamts und zur Besoldung der Richter für das in Rede stehende Strafverfahren nicht entscheidungserheblich und daher unzulässig.

Aus dem gleichen Grund schlägt der Generalanwalt dem Gerichtshof vor, die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen den vorlegenden Richter für unzulässig zu erklären, darüber hinaus sei die dieses Verfahren einleitende Handlung inzwischen zurückgenommen und das Disziplinarverfahren eingestellt worden.

Sodann ist der Generalanwalt der Ansicht, dass die angefochtene Entscheidung der Kúria und die ihr zugrunde liegende nationale Regelung das Recht des vorlegenden Gerichts, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen, und damit die Funktionsweise des Mechanismus des Vorabentscheidungsersuchens beeinträchtigten. In diesem Zusammenhang weist der Generalanwalt darauf hin, dass dieser Mechanismus auf einem Dialog zwischen dem nationalen Gericht und dem Gerichtshof beruhe, dessen Aufnahme ausschließlich von der Beurteilung der Erheblichkeit und der Notwendigkeit seiner Vorlage durch das vorlegende Gericht abhänge. Insoweit sei nur der Gerichtshof befugt, im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit der ihm gestellten Vorlagefragen zu bewerten, ob diese Beurteilung sachlich richtig ist. Infolgedessen stellt der Generalanwalt fest, dass das vorlegende Gericht diese Entscheidung und die ihr zugrunde liegende nationale Regelung nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unangewendet lassen muss.

Schließlich verpflichte das Unionsrecht, auch wenn es den Mitgliedstaaten eine präzise Ergebnisverpflichtung hinsichtlich der Qualität der Dolmetschleistungen auferlege, diese nicht zur Einrichtung eines Registers mit unabhängigen Dolmetschern, die angemessen qualifiziert sind. Verdächtige oder beschuldigte Personen müssten jedoch die Möglichkeit haben, die Qualität der ihnen in Strafverfahren erbrachten Dolmetschleistungen in Frage zu stellen.

Würden verdächtige oder beschuldigte Personen festgenommen oder inhaftiert, sehe das Unionsrecht desgleichen vor, dass diese in einer Sprache, die sie verstünden, belehrt und über die strafbare Handlung, derer sie verdächtigt oder beschuldigt werden, unterrichtet werden müssten. Werde über einen Beschuldigten, der zuvor über die Verhandlung seines Verfahrens unterrichtet worden ist und der von einem Rechtsanwalt vertreten wird, in Abwesenheit geurteilt, müsse dieser Anwalt vor dem zuständigen Gericht anfechten können, wie das Recht des Beschuldigten auf Belehrung und Unterrichtung über den gegen ihn bestehenden Verdacht und die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen in einer Sprache, die er versteht, während des Strafverfahrens angewandt worden ist.

Zur Frage, ob die während der Ermittlungsphase des Verfahrens fehlende Belehrung und Unterrichtung des Beschuldigten über den Tatvorwurf in einer späteren Phase des Strafverfahrens nachgeholt werden könne, hebt der Generalanwalt hervor, dass diese Unterrichtung wirksam gegenüber dem Rechtsanwalt des Beschuldigten erfolgen könne, und zwar spätestens dann, wenn die Verhandlung über die Begründetheit des Tatvorwurfs vor dem nationalen Gericht tatsächlich beginnt.

1 Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (ABl. 2010, L 280, S. 1), Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1) und Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1).