Nach Ansicht von Generalanwalt Bobek im Verfahren C-348/20 P vor dem Europäischen Gerichtshof kann die Nord Stream 2 AG die Richtlinie, mit der der Anwendungsbereich der Erdgasrichtlinie auf Fernleitungen zwischen der Europäischen Union und Drittländern ausgeweitet wird, vor den Unionsgerichten anfechten. Durch den Erlass dieser Richtlinie habe sich die Rechtsstellung der Nord Stream 2 AG geändert, die darüber hinaus als einziges Unternehmen tatsächlich von diesem Rechtsakt betroffen sei.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 179/2021 vom 06.10.2021 ergibt sich:
Im April 2019 änderte der Unionsgesetzgeber durch Erlass einer Richtlinie (im Folgenden: Änderungsrichtlinie)1 die Erdgasrichtlinie2, um zu gewährleisten, dass die für Gasfernleitungen zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten geltenden Vorschriften innerhalb der Europäischen Union auch für Gasfernleitungen aus Drittländern und in Drittländer gelten. Die Nord Stream 2 AG, eine schweizerische Tochtergesellschaft von Gazprom, ist für Planung, Bau und Betrieb der Gasfernleitung Nord Stream 2 zuständig. Sie hat die Änderungsrichtlinie vor dem Gericht der Europäischen Union angefochten, jedoch wurde ihre Klage mit Beschluss vom 20. Mai 20203 als unzulässig abgewiesen. Gegen den Beschluss des Gerichts hat die Nord Stream 2 AG beim Gerichtshof ein Rechtsmittel eingelegt.
In seinen Schlussanträgen vom 06.10.2021 widerspricht Generalanwalt Michal Bobek zunächst der Erwägung des Gerichts, dass die Änderungsrichtlinie die Nord Stream 2 AG nicht unmittelbar betreffen könne, weil es sich um eine Richtlinie handele. Hierzu führt der Generalanwalt aus, dass die Zulässigkeit von Nichtigkeitsklagen natürlicher oder juristischer Personen gegen eine Richtlinie im AEU-Vertrag zwar nicht explizit geregelt sei, dieser Umstand allein aber nicht genüge, um solche Klagen für unzulässig zu erklären. Vielmehr sei nach gefestigter Rechtsprechung bei der Prüfung der Anfechtbarkeit einer Unionshandlung auf den Sachgehalt dieser Handlung abzustellen, während deren Form unbeachtlich sei. Daher könne nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass eine Richtlinie verbindliche Rechtswirkungen gegenüber Einzelpersonen entfalte. Soweit dies der Fall sei, könnten Einzelpersonen die Nichtigerklärung der betreffenden Richtlinie beantragen, wenn sie von dieser unmittelbar und individuell betroffen seien.
Was die Frage anbelangt, ob die Änderungsrichtlinie die Nord Stream 2 AG unmittelbar betrifft, befindet der Generalanwalt, dass sie insofern Rechtswirkungen entfalten könne, als sie den Anwendungsbereich der Erdgasrichtlinie auf Situationen erweitere, die bislang nicht von diesem Rechtsakt erfasst gewesen seien, wie die spezifische Situation der Nord Stream 2 AG.
Hinsichtlich der Feststellung des Gerichts, dass die Änderungsrichtlinie die Nord Stream 2 AG nicht unmittelbar betreffen könne, weil Umsetzungsmaßnahmen auf nationaler Ebene erforderlich seien, betont der Generalanwalt, dass dieser Umstand nicht bedeute, dass jede wie auch immer geartete Umsetzungsmaßnahme die unmittelbare Betroffenheit direkt und zwangsläufig ausschließe.
Die Voraussetzung der unmittelbaren Betroffenheit sei auch dann erfüllt, wenn es zwar Umsetzungsmaßnahmen gebe, die zuständigen Behörden aber in Wirklichkeit keinen echten Ermessensspielraum im Hinblick darauf hätten, wie der Hauptrechtsakt der Union umzusetzen sei.
In diesem Zusammenhang prüft der Generalanwalt, inwieweit die Vorschriften der Änderungsrichtlinie über die Entflechtung4, den Zugang Dritter5 und die Tarifregulierung6, die nach Auffassung der Nord Stream 2 AG neue Verpflichtungen für sie begründen, Umsetzungsmaßnahmen erfordern.
Bezüglich der Entflechtungsvorschriften erkennt der Generalanwalt zwar an, dass den Mitgliedstaaten drei verschiedene Optionen zur Verfügung stünden, um das unionsrechtlich vorgegebene Ziel zu erreichen, betont aber, dass die Wahl jeder dieser Optionen unvermeidlich zu einer Änderung der Rechtsstellung der Nord Stream 2 AG führe. Sie werde nämlich verpflichtet sein, entweder die Gasfernleitung Nord Stream 2 vollständig zu verkaufen oder denjenigen Teil der Gasfernleitung, der der Zuständigkeit Deutschlands unterliege, zu verkaufen oder das Eigentum an der Gasfernleitung auf eine gesonderte Tochtergesellschaft zu übertragen. Daher berühre bereits die Änderungsrichtlinie selbst die Rechtsstellung der Nord Stream 2 AG, und nicht erst die nachfolgenden Umsetzungsmaßnahmen. Folglich sei die Feststellung des Gerichts, dass die Nord Stream 2 AG von der Änderungsrichtlinie nicht unmittelbar betroffen sei, weil die Entflechtungsregelung nationale Umsetzungsmaßnahmen erfordere, rechtsfehlerhaft.
Des Weiteren stellt der Generalanwalt fest, dass das Gericht zu Unrecht nicht geprüft habe, ob die Rechtsstellung der Nord Stream 2 AG auch durch die Bestimmungen der Änderungsrichtlinie über den Zugang Dritter und/oder die Tarifregulierung beeinträchtigt werden könnte. Insoweit vertritt der Generalanwalt die Auffassung, dass diese Bestimmungen neue regulatorische Beschränkungen für die Nord Stream 2 AG begründeten, die ihre Rechtsstellung änderten und sie somit unmittelbar beträfen.
Ferner habe das Gericht zu Unrecht entschieden, zwei von der Nord Stream 2 AG als Beweise vorgelegte Dokumente aus den Akten zu entfernen und die in der Klageschrift nebst Anlagen enthaltenen Passagen, in den diese Dokumente wiedergegeben würden, nicht zu berücksichtigen. Das Gericht habe bei der Prüfung der Zulässigkeit der fraglichen Dokumente einen falschen Prüfungsrahmen angewandt. Anstelle der für die Vorlage von Beweisen vor den Unionsgerichten geltenden Grundsätze habe das Gericht im Wesentlichen die Regelungen und die Systematik der Verordnung über den Zugang zu Dokumenten7 angewandt.
Unter diesen Umständen sollte der Gerichtshof nach Ansicht des Generalanwalts den Beschluss des Gerichts in vollem Umfang aufheben. Zudem sollte der Gerichtshof feststellen, dass die Nord Stream 2 AG von der Änderungsrichtlinie nicht nur unmittelbar, sondern auch individuell betroffen ist. Im Grunde betreffe die Änderungsrichtlinie allein die Gasfernleitung Nord Stream 2, deren Bau zum Zeitpunkt des Erlasses des fraglichen Rechtsakts nicht nur begonnen, sondern bereits weit fortgeschritten gewesen sei.
Insoweit sei hervorzuheben, dass für Nord Stream 2, im Gegensatz zu vergleichbaren früheren oder zukünftigen Projekten, keine Abweichung oder Ausnahme von den Regelungen der Erdgasrichtlinie in Anspruch genommen werden könne, weshalb diese Fernleitung sowohl im Verhältnis zu jenen anderen Projekten als auch im Hinblick auf die Änderungsrichtlinie selbst eine Sonderstellung einnehme.
Aus diesen Gründen kommt der Generalanwalt zu dem Ergebnis, dass die Nord Stream 2 AG, da sie unmittelbar und individuell betroffen sei, zur Anfechtung der Änderungsrichtlinie befugt sei. Was die Begründetheit der Klage dieses Unternehmens auf Nichtigerklärung der Änderungsrichtlinie anbelangt, hält der Generalanwalt den Rechtsstreit in dieser Hinsicht nicht für entscheidungsreif und schlägt daher vor, die Sache an das Gericht zurückzuverweisen.
1 Richtlinie (EU) 2019/692 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2019 zur Änderung der Richtlinie 2009/73/EG über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt (ABl. 2019, L 117, S. 1).
2 Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG (ABl. 2009, L 211, S. 94).
3 Beschluss des Gerichts vom 20. Mai 2020, Nord Stream 2/Parlament und Rat, T-526/19; siehe auch Pressemitteilung Nr. 62/20.
4 Im Zusammenhang mit netzgebundenen Wirtschaftszweigen wird mit dem Begriff „Entflechtung“ die Trennung potenziell dem Wettbewerb unterliegender Tätigkeiten (wie Gewinnung und Versorgung) von solchen Tätigkeiten bezeichnet, bei denen ein Wettbewerb entweder nicht möglich oder nicht erlaubt ist (wie etwa Transport). Ziel der Entflechtung ist es, zu verhindern, dass Betreiber von Fernleitungsnetzen ihre eigenen Versorgungstätigkeiten zum Nachteil unabhängiger Versorger begünstigen.
5 Die Erdgasrichtlinie verpflichtet Fernleitungsnetzbetreiber, potenziellen Kunden in nichtdiskriminierender Weise und auf der Grundlage veröffentlichter Tarife Zugang zu ihren Kapazitäten zu gewähren.
6 Die Erdgasrichtlinie sieht im Wesentlichen vor, dass die von Fernleitungsnetzbetreibern für die Nutzung ihrer Transportkapazität berechneten Tarife von der nationalen Regulierungsbehörde des betreffenden Mitgliedstaats genehmigt werden müssen.
7 Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (ABl. 2001, L 145, S. 43).